DAS TRIBUNAL IN GENUA IMITIERT DEN STAAT UND VERFEHLT SEINEN ZWECK: Nie wieder Schauprozesse
Der Polizeiknüppel folgte in Genua dem italienischen Kommando; die Schmerzenschreie der Opfer antworteten vielsprachig. Deshalb liegt es auf der flachen Hand, dass die Ermittlungen der Opfer-Anwälte und Experten sich international vernetzen, dass ein Forum gebildet wird, um die Resultate dieser Gegenermittlungen weltweit bekannt zu machen. Erfahrungen lehren: Es lässt sich genügend juristischer Sachverstand und kriminalistisches Vermögen aufbieten, um Vertuschungsversuche zum Scheitern zu bringen.
Ein solch verdienstvolles Unternehmen ist für Oktober geplant. Aber leider haben sich die Organisationen eine Form einfallen lassen, die den Inhalt zu ruinieren droht. Sie erwägen, das Meeting als internationales Tribunal durchzuführen, das prozessförmig abläuft und an dessen Ende ein Urteilsspruch steht. Das kann nicht gut gehen.
Das geplante Treffen in Genua ist eine gesellschaftliche Initiative. Inhalt und Form sollten dem folgen. Der Inhalt: Druck auf die italienischen Verfolgungsorgane und den Untersuchungsausschuss des italienischen Parlaments; eine Tribüne, auf der die Globalisierungsgegner ihre Analysen darlegen können; Gelegenheit, die Arbeitszusammenhänge enger zu knüpfen. Die Form: ein Kongress, auf dem die Opfer reden und Untersuchungsausschüsse sowie Experten berichten.
Dies alles ist mit einem Tribunal unvereinbar. Die Gesellschaft in Aktion sollte sich nicht der Symbole der Staates bedienen, nur um die eigene Bedeutung zu steigern. Die Gegentribunale der Dreißigerjahre anlässlich des Reichstagsbrandprozesses oder der Moskauer Prozesse sind kein Argument. Weder in Nazideutschland noch in Sowjetrussland gab es die geringste Chance, Einfluss auf gerichtliche Verfahren oder die politische Willensbildung zu nehmen. Die Tribunale damals prangerten das System der Rechtlosigkeit an. Doch schon bei den Vietnam- oder Russell-Tribunalen war deren Gerichtsform zweifelhaft. Bei den Genueser Ermittlungen verfehlt sie ihren Zweck.
Denn in Genua wird die schiefe Ebene vom Rechts- zum Polizeistaat zum Thema. Rechtsstaatliche Verhältnisse sollen eingeklagt werden. Mit irgendeiner Gegen-, Parallel- oder Volksjustiz ist das nicht möglich, denn sie setzt gerade voraus, dass der Rechtsstaat bereits definitv durch Staatsterrorismus ersetzt worden ist.
Das Schlimmste an den Tribunalen ist der Zwang zum Konformismus, die Inszenierung der Kollektiv-Empörung. Selbstreflexion, aber auch Zweifel an den eigenen Zielen und Kampfformen, ohne die jede soziale Bewegung verkommt, gehen unter. Bitte nie mehr Schauprozesse!
CHRISTIAN SEMLER
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen