die jazzkolumne
: Gewinner und Verlierer im amerikanischen Jazz

Zeit der Abrechnung

Es mangelt wahrlich nicht an Auszeichnungen im Jazz-Betrieb. Da gibt es die Kritiker- und Leser-Preise der beiden großen amerikanischen Jazzzeitschriften, Down Beat und Jazztimes. Es gibt Gold und Platin für hohe und höhere CD-Verkaufszahlen. Und es gibt den Grammy, die begehrteste aller Auszeichnungen.

Der Saxofonist Joe Lovano erhielt in diesem Jahr den Grammy in der Sparte „bestes Jazz-Ensemble Album“ für seine CD „52nd Street Themes“ (Blue Note). Damit knüpfte er an seine CD „Rush Hour“ an, die ebenfalls mit einem Grammy ausgezeichnet wurde. Ein weiteres Mal geht es hier um das Update bewährter Standard-Titel, die früher von John Coltrane, Miles Davis und Tadd Dameron zu Klassikern des Jazz gemacht wurden. Dass ihm dabei mehr gelang, als lediglich Coverversionen als Eigenleistung zu deklarieren, auch dafür wurde Lovano jetzt von den Down Beat-Kritikern zum „Jazzkünstler des Jahres“ gewählt.

Zum vielversprechendsten Nachwuchsstar kürte die internationale Down Beat-Kritikerjury in ihrer gerade veröffentlichten Jahresbilanz den Saxofonisten Chris Potter, der mit seiner CD „Gratitude“ beim Marktführer Verve debütierte. Zum Jazzlabel des Jahres wurde dennoch Blue Note Records gewählt – wegen der großen Freiheiten, die den Künstlern dort angeblich eingeräumt werden.

Bei Blue Note ist, neben Joe Lovano, auch Cassandra Wilson. Obwohl ihre letzte CD „Traveling Miles“ schon vor zwei Jahren veröffentlicht wurde, ist sie immer noch der Bestseller des Traditionslabels, und das Time-Magazine kürte sie sogar gerade zur „besten Sängerin Amerikas“. Der 45-jährigen Jazzsängerin, Komponistin und Arrangeurin ist in der Ausgabe auch ein ausführlicher Artikel von Stanley Crouch gewidmet, der sie in eine Reihe mit Betty Carter, Sarah Vaughan und Ella Fitzgerald stellt. „Traveling Miles“ war Wilsons Tribut an die Musik und den Spirit von Miles Davis. Seitdem arbeitet sie an einem neuen Werk, dessen Erscheinungsdatum allerdings immer noch nicht feststeht.

Hin und wieder taucht sie noch für ein oder zwei Statements auf den CDs anderer auf, so auch auf Olu Daras aktuellem Album „Neighborhoods“ (Atlantic). Als weitere Gäste finden sich bei Dara der Gitarrist Kwatei Jones-Quartey ebenso wie Dr. John, der bei der CD-Session Hammond-B3-Orgel und Fender-Rhodes-Piano spielt, und bei einem Titel, „Used To Be“, singt Cassandra Wilson mit Dara im Duett. Auf der in diesem Monat erscheinenden CD des Trompeters Terence Blanchard, „Let’s Get Lost“ (Sony), singt Wilson „On The Sunny Side Of The Street“ in einer für sie so typischen kulturoptimistisch melancholischen Version zum 100. Geburtstag von Louis Armstrong.

In seiner Village Voice-Rezension über das JVC-Jazzfestival, das alljährlich den Juni zum offiziellen New Yorker Jazzfestivalmonat macht, behauptet Gary Giddins, dass selbst das beste Konzept leer laufen kann, und schwups, lässt er Joshua Redman fallen. Redmans Komposition „Passage of Time“ (Warner), die dieser in New York aufführte, ist als achtteilige Suite angelegt. Auf der CD sind die Unterbrechungen des Flusses jedenfalls nur virtuell, und es gibt sie allein wegen der Auflagen, die der Hörfunk an die Länge von Musikstücken stellt, falls sie denn gesendet werden sollen. Schließlich zählt auf dem amerikanischen Jazzmarkt, für den diese CD in erster Linie produziert wurde, nichts wirklich, was nicht im Radio gespielt wird.

Mit seiner Version von „Hit The Road Jack“ landete der Saxofonist jüngst erst einen amerikanischen Jazzradio-Hit. Doch für das Pop-Kalkül, das hin und wieder auch auf anderen Redman-CDs anklang, ist diese Aufnahme zu ambitioniert, zu erwachsen, zu lahm. Redman spielt mit seiner Working Band in der gleichen Besetzung wie auf der Vorgänger-CD „Beyond“ (Warner), und vor allem Pianist Aaron Goldberg, der damals die Rolle von Brad Mehldau übernahm, spielt sich hier zunehmend frei von Erwartungsdruck und Mehldau-Hype.

Redman schlägt mit dieser Komposition auch einen Bogen zum Anfang seiner Karriere vor zehn Jahren, als er den nach wie vor wichtigen Thelonious-Monk-Wettbewerb für junge Nachwuchskünstler gewann. Für eine Straight-ahead-Jazz-Produktion, Jahrgang 2001, klinge die CD aber distanziert und kühl, für einen Live-Event sei sie zudem entschieden zu lang und unstrukturiert, befindet der Kritiker Giddins und entdeckt stattdessen – Keith Jarrett und Roy Hargrove. Doch der Trompeter Hargrove wird nun nicht gelobt für seine Sachen auf D’Angelos CD „Voodoo“ (Virgin) und Erykah Badus „Mama’s Gun“ (Uptown), sondern als der beste Balladenspieler neben Keith Jarrett.

Nur – dem Pianisten Keith Jarrett reicht das Lob seines schärfsten Kritikers längst nicht. In einem Interview mit der FAZ führt er ein weiteres Mal vor, wie schlecht seine Idiosynkrasien dem Jazz stehen. Besessen davon, dass das Ende für Wynton Marsalis naht, fabuliert Keith Jarrett von einer nächsten Revolution im Jazz, die unmittelbar bevorstehe. Und wo wird sie stattfinden? Auf einer seiner nächsten CDs natürlich, sagt Jarrett. In den aktuellen Konzerten seines Trios kündet davon allerdings noch keine Spur. Und weitere Bewerber in Sachen grundlegender Veränderungen gibt es derzeit nicht gerade viele im Jazz. CHRISTIAN BROECKING