: Von der Lust, Angeklagter zu sein
Für die tägliche Gerichtssendung mit Barbara Salesch werden täglich hunderte von Bewerbern auf ihre Fernsehtauglichkeit getestet. Der Kandidaten-Probelauf findet allerdings vor einem Ersatzrichter statt. Und die Fälle sind auch nicht mehr echt
von THOMAS VOBURKA
Wenn die rothaarige TV-Richterin Barbara Salesch ihr Hämmerchen schwingt, gucken durchschnittlich zwei Millionen Zuschauer zu. Die ursprünglich vom Hamburger Landgericht nur für zwei Jahre beurlaubte Fernsehrichterin hat ihren Vertrag mit Sat.1 darum kürzlich verlängert. Täglich gibt es neue „echte Fälle, nachempfundene Prozesse“. Und deshalb werden auch täglich neue Kandidaten gebraucht, die die Angeklagten und Zeugen mimen.
So warten wir an diesem heißen Tag mit einigen hundert Bewerbern, die von Frau Salesch abgeurteilt werden wollen. Wozu, das wissen wir noch nicht. Wurden anfangs tatsächlich echte Fälle verhandelt, so gingen den Machern der Sendung irgendwann die „realen menschlichen Tragödien“ aus. Und deshalb sorgen mittlerweile professionelle Drehbuchautoren für den erwünschten Thrill, der gerne einige Zentimeter unter der Gürtellinie stattfinden darf.
Da aber ein Teil des Erfolges darauf beruht, dass viele der Zuschauer nach wie vor glauben, die Fälle seien wahrhaftig, müssen auch Angeklagte und Zeugen glaubhaft agieren. Nicht zu professionell, aber man sollte schon in der Lage sein, sich und seine Gefühle auszudrücken. Wünschenswert ist auch, wenn das Publikum den Angstschweiß der Angeklagten förmlich riechen kann. Ob dabei die Furcht vor der Kamera oder vor der gestrengen Richterin den Transpirationsprozess aktiviert, ist aus juristischer Sicht unerheblich.
Wer aber sind die hoffnungsvollen „Laiendarsteller“, die zum Teil hunderte Kilometer weit fahren, um eventuell irgendwann einmal vor den Schranken des Sat.1-Gerichts zu stehen? Manche reizt das Geld. Immerhin kassiert man als Angeklagter für einen Drehtag 500 Mark in bar und auch das Zeugengeld fällt mit drei Hundertern recht üppig aus. Die meisten aber sind wegen der 50-jährigen Richterin hier. Zum Beispiel Rolf, 34, aus Trier, der das „Einfühlungsvermögen in die menschliche Seele“ und den „Gerechtigkeitssinn“ der Justitiarin preist. Oder André, 23, aus Overath, den lediglich der Tatbestand eines fehlenden Schulabschlusses daran hindert, Jura zu studieren. Die Begeisterung für die Rechtslehre hat bei ihm Barbara Salesch geweckt. „Die spricht in einfachen Worten. Was nutzt es mir, wenn ich die Paragrafen kenne, aber den Sinn nicht versteh?“
Gemeinsam mit diesen Herren bereite ich mich nun auf die Rolle des Angeklagten Timo vor. Timo, ein (angeblich) gut aussehender Sportlehrer in den besten Jahren, steht wegen unterlassener Hilfeleistung an einer Schutzbefohlenen vor Gericht. Jennifer, ein 15-jähriges Schulhof-Luder wie aus dem Lehrbuch, hat sich in ihren Pauker verknallt und schickt ihm, nebst verheißungsvollen Blicken im Unterricht, glühende Liebesbriefe. Timo, der weiß, wie sich ein Gentleman-Pädagoge benimmt, ignoriert sie und widersteht ihrem Liebeswerben. Während der Turnstunde, bei einer Übung am Stufenbarren, kommt es dann zum Eklat: Jennifer springt – genau in die Arme von Timo – doch der weicht zur Seite aus. Weshalb die arme Jenny auf den Turnhallenboden kracht und sich den Knöchel bricht.
Schon steht der standhafte Pädagoge vor Gericht, doch – zur großen Bestürzung von Rolf, André und dem Großteil der Anwesenden („Frechheit“, „Das darf doch nicht wahr sein“) – nicht vor Barbara Salesch. Die ist zum Probelauf gar nicht angereist. Ihren Part übernimmt ein junger, ziegenbärtiger Redakteur, der Frau Saleschs gestrengen Blick über die Brille zwar perfekt imitiert, doch ganz dasselbe ist es nicht. Außerdem fehlt das Hämmerchen, „das Markenzeichen der Richterin“, wie Rolf erklärt.
Aber sei‘s drum. Wir wollen den Job trotzdem. Und wenn wir jetzt „richtig gut“ sind (Regieanweisung), sehen wir Frau Richterin bald auch wirklich live. Also nicht die Nerven verlieren. Was Auge in Auge mit der Kamera gar nicht so einfach ist. Obwohl ich mich penibel auf die Rolle vorbereitet habe, komme ich dann doch ganz schön ins Stottern, als mich der Ziegenbärtige ins Kreuzverhör nimmt.
Statt eines Urteils bestätigt uns die Casting-Kommission später, dass wir überaus talentiert seien und dass einem Einsatz im Fernsehen nun nichts mehr im Wege stände. Wenn denn die Rolle auf uns passt. Dann möchte man noch wissen, ob uns „gewisse“ Themen prinzipiell unangenehm seien und ob man sich vorstellen könne, zum Beispiel, HIV-positiv zu sein. Natürlich nur vor Gericht. Danach entlässt uns der Redakteur in die Ungewissheit. Aber wir sind voller Hoffnung. Der Anruf von Barbara Salesch kommt bestimmt.
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