piwik no script img

Eine Harley für Papa

Machen, was Spaß macht: Singen und tanzen und schöne Klamotten tragen  ■ Von Gesine Kulcke

Für 25 Sekunden und die Chance, ein Popstar zu werden, sind Fiona, David, Steven und wie sie alle heißen gestern mitten in der Nacht aufgestanden, haben ihre Augen, Lippen und Nägel angemalt und die babyblaue H&M-Garderobe übergeworfen. Sie sind aus Münster, Hannover und Oldenburg nach Hamburg gekommen. Ins Hotel Intercontinental, wo RTL II mit einem Blitz-Casting für die zweite Staffel der Doku-Soap „Popstars“ eine Handvoll Stars entdecken wollte. 1000 ließen sich hier eine Nummer auf die Brust kleben, warteten mit leerem Magen rauchend und singend stundenlang darauf, dass sie vor die Kamera dürfen. Erst vor dem Hotel, dann dichtgedrängt auf den mit geschliffenen Glaslampen geschmückten Fluren des Hotels.

„Ein hochinteressantes Experiment“ nennt das Jurymitglied Noah Sow. Ein Experiment, von dem die überwiegend 18- bis 25-Jährigen erwarteten, dass es für sie das große RTL II-Versprechen einlösen würde: Jeder mit ein bisschen Stimme und etwas weniger Pickeln als die Konkurrenz kann so etwas wie ein No-Angel werden.

Einzige Hürde: Das vermeintliche Talent muss binnen 20 Sekunden vor einer laufenden Kamera unter Beweis gestellt werden. Ob Talent oder nicht, bewerten dann in weiteren fünf Sekunden solche, die längst als schöne TV-Kreaturen gecastet wurden: die Einslive-Moderatorin Noah Sow, der mit dem Echo ausgezeichnete Alex Christensen und der Berliner Choreograph Detleef „Dee!“.

Warum sie sich vorführen und auszählen lassen? Sie wollen reich und berühmt werden. „Und Papa eine Harley Davidson kaufen“, erzählt die Nummer 775. Fiona hat gerade ihr Abi gemacht und arbeitet in einem Sportgeschäft. Manchmal singt sie auch. Nur so für sich allein. Leider ein bisschen zu leise, wie sie sagt. Versuchen will sie es trotzdem mit dem Remix „Walk with you“ von Michael Jackson: „Es geht einfach nur darum, dass man macht, was einem Spaß macht, dass man den ganzen Tag tanzen, singen und schöne Klamotten tragen kann.“ Sie wird es nicht schaffen. Und doch ist es wichtig, dass sie dabei ist. RTL II braucht alle tausend Kandidaten. Wie vor zwei Wochen in Köln und danach in Berlin, werden auch in Hamburg nur zehn in die engere Auswahl kommen. Aber der hoffnungsvolle Rest macht das Casting zum telegenen Event und vermarktet die im November anlaufende Serie.

Trotz des Massenauflaufs, Jan hofft, dass er in Zukunft mehr sein wird als nur ein Fan der Doku-Soap „Popstars“. Seit sechs Jahren ist er mit seiner Gitarre und seiner Stimme auf Hamburgs Straßen unterwegs und nennt sich Fachidiot für Musik. Aus zwei Castings ist er schon rausgeflogen. Nicht weil er nicht singen kann, wie er sagt, sondern weil sein Aussehen nie gepasst hat: „Im Cinemaxx gab's letztens ein Casting. Ich hatte so ein transparentes Shirt an, war wohl overdressed. Beim zweiten Mal hatte ich einen babyblauen Pulli an. Das war's aber auch nicht.“ Jetzt ist er ganz in Schwarz gekleidet. Schlicht und einfach, damit das Gesicht betont wird. Eine ernsthafte Gesangsaufbildung kommt für ihn nicht in Frage. „Wenn ich an einer Hochschule rausfliege, weiß ich, dass ich kein Talent habe, während ich mir hier noch einreden kann, dass es nur an den Klamotten liegt.“

Wer oder was genau gesucht wird, scheint keiner so recht zu wissen. Wollen sie HipHop oder Rap? Julia hat keine Ahnung. Als das erste Casting für „Popstars“ vor zwei Wochen in Köln stattfand, hat sie es auch schon versucht und ist mit „Hero“ von Mariah Carey rausgeflogen. In Hamburg probiert sie es jetzt mit „I am out of Love“ von Anastacia: „In Köln sind Leute aussortiert worden, die wirklich toll singen konnten und super aussahen. Sogar mit abgeschlossener Gesangsausbildung.“ Die Leute, die für das Casting zuständig seien, hätten halt keine Ahnung von Musik. In wenigen Sekunden aus den Massen ein echtes Talent zu entedecken, sei unmöglich. Aber sie könnten trotzdem einen Popstar aus ihr machen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen