Der gedemütigte Generaloberst

Fritz Streletz, Vizeverteidigungsminister der DDR, kämpft gegen die Strafverfolgung ehemaliger DDR-Bürger. Das Kapitel der deutschen Nachkriegszeit sei noch nicht zu Ende geschrieben. Er will die „historische Wahrheit“ retten – und damit ebenfalls seinen eigenen Platz in der deutschen Geschichte

Er hätte niemals einen Eid auf die BRD geschworen. Er sei kein Wendehals

von ANTJE LANG-LENDORFF

Fritz Streletz hat alle Schlachten verloren – und trotzdem kämpft er weiter. Denn für den ehemaligen Chef des Hauptstabes der Nationalen Volksarmee (NVA) und stellvertretenden Verteidigungsminister der DDR ist der Kalte Krieg noch nicht vorbei. „In Einheit und Geschlossenheit liegt unsere Kraft. Die Strafverfolgung von DDR-Bürgern muss beendet werden“, verkündet er allen, die ihm noch zuhören. Das sind nicht mehr viele. Denn mit der Wende kam ihm erst der Feind, dann seine ganze Armee einfach abhanden.

Doch Streletz gibt sich so leicht nicht geschlagen. Braun gebrannt vom Kubaurlaub im Mai, bei dem er mit Fidel Castro plauderte, in sommerlich kurzärmeligem Hemd und weißer Hose sieht er nicht gerade aus wie ein gescheiterter Sozialist. Nur der stechende Blick verrät einen Mann, der es gewohnt ist zu befehlen. „Ich bin bestrebt, trotz des Verlustes meines Staates erhobenen Hauptes optimistisch in die Zukunft zu blicken“, sagt der Mann.

Er lässt sich nicht ins gesellschaftliche Abseits drängen. So oft sich die Gelegenheit bietet, hält er Vorträge über die verhasste „Siegerjustiz der BRD“ wie im Juni vor dem Berliner Solidaritätskomitee mit Strafverfolgten. Bei rund 80 Veranstaltungen habe er seit seiner Pensionierung bereits gesprochen, berichtet er. Allerdings nur in den neuen Ländern. Im Westen interessiere man sich für die Problematik scheinbar nicht. Außerdem trifft er sich regelmäßig mit ehemaligen Kameraden und Unterstellten bei einer Veranstaltung der Urania, um über aktuelle militärpolitische Themen zu diskutieren. Auch hier steht er als Redner über politische Strafverfolgung auf dem Programm.

Denn Streletz empfindet sich als Opfer einer „juristischen Hetzjagd“. Pfingsten 1991 lag der pensionierte General abends mit seinem Enkel im Bett, als es an der Haustür Sturm klingelte. „Herr Streletz, Sie sind vorläufig verhaftet“, verkündeten ihm fünf Beamte von der Kriminalpolizei. Streletz, im Schlafanzug, packte ein paar Dinge in eine Aktentasche, „die man für ein paar Tage eben braucht“, erzählt er. Dann brachten sie ihn in U-Haft.

Aus den Tagen wurden zwei Jahre und drei Monate. „Nach wie vor muss bei Grenzdurchbruchsversuchen von der Schusswaffe rücksichtslos Gebrauch gemacht werden“, hatte er bei einer Sitzung des Verteidigungsrates im Mai 1974 protokolliert. Das wurde ihm zum Verhängnis: Im Mauerschützenprozess verurteilte man ihn zu fünfeinhalb Jahren Haft. In der DDR hatte er ein Spitzengehalt von 4.800 Mark verdient. Rund um die Uhr stand ihm damals ein Volvo samt Chauffeur zur Verfügung. In der Bundesrepublik saß er erst mal zweieinhalb Jahre in einer Einzelzelle mit acht Quadratmetern in Moabit. Dort begann er schließlich, die Ereignisse der Wendezeit aus seiner Sicht niederzuschreiben.

1993 entließ man ihn auf Bewährung. Zwei Mal die Woche musste er sich danach auf der Strausberger Wache melden, bei Beamten, die früher seine Unterstellten waren. Der Umzug von der Strausberger Dienstvilla in eine Vier-Zimmer-Wohnung, die hohen Schulden wegen der Prozesskosten hätten ihm nichts ausgemacht, behauptet er. Doch er wollte nicht als Verbrecher gelten. Deswegen legte er vor vier Jahren beim Europäischen Gerichtshof Revision ein. Von den Straßburger Richtern erhoffte er sich „mehr Objektivität“ als von ihren deutschen Kollegen. Im März dieses Jahres wiesen jedoch auch sie seine Klage einstimmig zurück. Nicht einmal der russische Geschworene ergriff seine Partei – für Streletz eine bittere Enttäuschung.

Inzwischen wundert ihn die Entscheidung des Gerichtshofs aber überhaupt nicht mehr. Denn er hat eine abenteuerliche Vermutung: „Die BRD ist der größte Geldgeber der EU, sie bezahlt also auch den Gerichtshof. Insofern war es eigentlich zu erwarten, dass wir die Rachepolitik gegen DDR-Funktionsträger bestätigt bekommen.“ Der Gerichtshof habe damit allerdings eine Chance zur Aufklärung und Beendigung des Kalten Krieges vertan, bedauert er.

Die in Moabit begonnenen Memoiren sollen demnächst veröffentlicht werden. Denn Streletz geht es um die „historische Wahrheit“, wie er es nennt. Er will die von den Westdeutschen diktierte Geschichtsschreibung korrigieren. Und damit seinen eigenen Platz in dieser Geschichte retten. Für ihn existiert die innerdeutsche Grenze noch immer als eine „Grenze der Bevormundung“. Doch er ist sich sicher: „Über das Kapitel der deutschen Nachkriegszeit wurde noch nicht das letzte Wort gesprochen.“

Ehemalige Bürger der DDR würden als Bürger zweiter Klasse behandelt, beschwert er sich stellvertretend für den Osten Deutschlands. Und kämpft damit gegen die Demütigung, die ihm und seiner Soldatenehre widerfahren ist. Ehemalige Wehrmachtsangehörige dürfen ihren Titel heute noch im Namen führen. Er nicht. Dagegen wehrt er sich und zückt mit triumphierendem Lächeln eine Visitenkarte, auf der in geschwungenen Lettern steht: „Fritz Streletz, Generaloberst a. D.“

Er lasse sich seinen Dienstgrad nicht nehmen, sagt er. Wie zum Beweis, dass nicht alle seine Autorität als Armeechef vergessen haben, erzählt er: „Wenn ich ehemalige NVA-Leute auf der Straße treffe, nehmen manche heute noch die Hände aus den Taschen, wenn sie mich sehen.“ 11.800 Soldaten der 175.000 Mann starken NVA dienten nach der Wende in der Bundeswehr weiter. Von denen ist Streletz enttäuscht. „Da haben wir in der Kaderarbeit etwas falsch gemacht. Wie ist es sonst möglich, dass so viele über Nacht die Gesinnung wechselten?“

Er selbst hätte niemals einen Eid auf die Bundesrepublik geschworen. Er sei schließlich kein Wendehals. „Könnte ich noch mal von vorne anfangen, ich würde genauso noch mal leben“, bezeugt er seine Standfestigkeit. Er habe seine Aufgaben auf der Grundlage der Verfassung der DDR und des Fahneneides erfüllt. Trotz Mauer und Schießbefehls ist er immer noch überzeugt: „Ich brauche mich bei niemandem für irgendetwas zu entschuldigen.“ Über die aktuelle Diskussion in der PDS ist er deswegen empört. Er hielt sich von Anfang an von der Partei fern, da er das Gefühl hatte, nicht erwünscht zu sein. Wenn er jedoch Mitglied wäre, würde er spätestens jetzt austreten, sagt er.

Denn er bereut nichts. Er würde auch noch weiter prozessieren, wenn es auf Erden eine höhere Instanz gäbe. So muss er sich allerdings bis zum Jüngsten Gericht gedulden, an das er als überzeugter Sozialist nicht einmal glaubt.