Normalzeit: HELMUT HÖGE übers Theater
„Die 81 Min. des Fräulein A.“
Vor einiger Zeit beschloss ich, Russisch zu lernen – bargeldlos bei Katja und Victor Shulman. Das überforderte mich zwar, aber seitdem bin ich mit den beiden Theaterleuten befreundet. Die verdiente Schauspielerin Katja leitet eine deutsch-russische Jugendtheatergruppe in Berlin und Victor lehrt Regie an verschiedenen Schauspielschulen.
Vor noch einigerer Zeit beschloss ich, mich journalistisch weiterzubilden – bargeldlos und im Kollektiv. Dieses brach zwar immer wieder auseinander, aber seitdem trifft man sich regelmäßig bei Jürgen Kuttner, wo auch der Hausautor des Deutschen Theaters Lothar Trolle sich gelegentlich blicken lässt. Einmal las er dort auch ein paar afrikanische Märchen vor, die er auf Berlin hin umgeschrieben hatte, die aber weiter genauso funktionierten. Der Umschreiber meinte dazu: „Ich denke, man muss sich die Dinge nehmen und damit was anderes machen.“ Dieser Satz – der findet sich nun so im Programmheft des Stükke-Theaters an der Weberwiese wieder.
Aber nicht nur das: „Annas zweite Erschaffung der Welt“, so der Untertitel des Stückes von Lothar Trolle, wurde auch noch von Victor Shulman inszeniert. Und das kam so: In Victors Regieklasse gab es unter den Studenten eine vom Direktor provozierte Sezession – vier Schauspielschüler verließen den Kursus, kurz vor der Premiere ihres ersten Stücks. Sie baten Victor, mit ihnen ein neues zu inszenieren – und zwar am Stükke-Theater. Lothar Trolle steuerte das Anna-Stück dazu bei und Katja ihre beste Schauspielschülerin, eine Deutsch-Russin, die dann auch wirklich hervorragend war. Vor zwei Wochen fand die Premiere statt.
Es geht um die Träume von vier Supermarkt-Kassiererinnen. Die Regie hat sie um den Traum-Autor, der als Moderator des Stückes auftritt, ergänzt. Wieder hat Lothar Trolle hier einige Träume umgeschrieben, wenn man so sagen darf, denn die vier Kassiererinnen unterbrechen ihr tägliches Einscannen der Waren im Frauenruheraum und pausieren dort quasi tagträumerisch, wobei sie nacheinander an Leda und den Schwan, König Lear, die Mutter der Sirenen des Odysseus und an den biblischen Noah denken. Aus diesen Versunkenheiten werden sie immer wieder durch Lautsprecherdurchsagen rausgerissen: „Fräulein A. bitte zur Kasse 5“, „Fräulein B. in den Leergutbereich“...
Aber schon vorher vermischen sich bei ihnen gelegentlich die Substanzen – der Arbeit und des Traums. So träumte eine der Kassiererinnen einmal, dass eine Hexe „Heia“ schrie und mit ihrer Peitsche auf einen Herrn einschlug, den sie mit seinem vollen Einkaufswagen nachts über die Dächer der Stadt jagte. Anderswo sind die Übergänge fließend: Wenn sie frühmorgens kurz vor 8 Uhr vor den geöffneten Türen ihres Spinds stehen, um sich umzuziehen, dann wechseln die Frauen erst einmal ein paar harmlose Worte, Alltagsgeschichten. Die eine erzählt von ihrer Katze, die andere vom Nachbarn, den seine Frau verlassen hat. „O diese ganz unterschiedlichen Arten von Müdigkeit“, steht dazu im Textheft – als dramaturgische Anmerkung.
Neben solch „harmlosen Worten“ gibt es aber auch noch einige „merkwürdige Monologe“, wie den vom Fräulein D., das sich eigentlich nur am Waschbecken die Hände waschen wollte, aber dann anfängt, mit ihrem Spiegelbild zu reden: „Und dann hätte ich noch gerne etwas von der Lende, aber bitte nicht so fett, ja ...“ Unmerklich geht dieses Käufer-Welsch in klassischen Flattersatz über, um sich von da aus „einem ganz anderen Thema zuzuwenden“.
Bei einer anderen Kassiererin ist es wieder anders, da verzahnt sich die schwarze Beobachtung einer Kundin vorm Gewürzregal mit einem weißen Schwan, der sie begehrt. Genug! Der Schluss des Stücks ist nicht von Trolle, sondern von Shulman – und wird nur anverraten: er ist konventionell-fraulich.
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