piwik no script img

Bedienungsanleitung für ein Gehirn

Das menschliche Gehirn ist weitaus flexibler als bisher angenommen wurde. Der Göttinger Neurobiologe Gerald Hüther gibt Tipps, wie jeder selbst auf seine Nervenverknüpfungen positiv einwirken kann

In der Neurobiologie scheinen die Paradigmen wie Fallobst zu purzeln und machen teilweise revolutionär anders anmutenden Erkenntnissen Platz. Die wichtigste ist: Das Gehirn bleibt ein lebenslang plastisches und entwicklungsfähiges System. Es stimmt nicht, dass das Gehirn von der Geburt bis zum Tode nur noch an Substanz und Möglichkeiten abnehme.

Das Gehirn ist aber abhängig von unseren Erfahrungen und in seiner Entwicklung angewiesen auf Anforderungen, denen wir es aussetzen. Ermöglicht haben diese Erkenntnisse unter anderem auch neue Verfahren. Früher konnten wir das Hirngewebe nur in Alkohol fixiert und möglichst tief gefroren tot im Rasterelektronenmikroskop betrachten, heute zeigt es sich in bildgebenden Verfahren computertomografisch lebend in Aktion und Reaktion auf spezifische Anforderungen.

Dabei zeigt sich zum Beispiel, dass das Zentrum für räumliche Vorstellung von Taxifahrern umso größer ist, je länger jemand Taxi fährt. Und als wenn diese und andere – eigentlich schon naheliegende – Erkenntnisse nicht genug wären, machen sich inzwischen Neurobiologen Gedanken, wie „das Gehirn die Seele macht“. Dabei zeigt sich, dass das Denken alleine oft nicht zur Erkenntnis führt und schon gar nicht ausreichend für das Hinzulernen ist.

Wem Erfahrungen nicht „unter die Haut gehen“ – so der Neurobiologe Gerald Hüther, Professor an der Universität Göttingen, in seiner „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“ – der kann nichts Entscheidendes, das bleibende Spuren im Gehirn hinterließe, lernen.

Dabei kommt dem, was wir unter Stress verstehen, eine durchaus positive Funktion zu, vorausgesetzt, der Stress ist nicht so stark, dass die Existenz des Stressempfängers komplett in Frage gestellt wird.

Dabei bewirken die bei Stress ausgeworfenen Hormone, insbesondere Cortisone, dass bisher vielleicht ungünstige Nervenstrukturen – so „aufgeweicht“ werden, dass neue Erfahrungen überhaupt erst gemacht werden können und neue Wege für andere Bewältigungsstrategien möglich werden.

Dies hat Konsequenzen für die eigene Entwicklung und natürlich auch für den Umgang mit noch nicht „fertigen Menschen“. Dabei führt Hüther nicht nur die Faktoren aus, die überhaupt erst zu einem gedeihlichen Gehirnwachstum und einer zukunftsträchtigen Gehirnflexibilität führen können, sondern auch die Bedingungen, die notwendig sind, um immer wieder auftretende, für das Wachstum des Gehirns notwendige Probleme zu bewältigen.

Hüther nennt drei wichtige Unterstützungsmittel für diejenigen, die ohne Drogen bei der Bewältigung ihrer Probleme ansetzen:– die gemachte (!) Erfahrung und das Vertrauen in die Fähigkeit anderer, die über die erst herzustellende Bindung die eigenen Kräfte unterstützen können,– das nur dem Menschen eigene Vertrauen in vorgestellte Kräfte, das kann Glaube, Zuversicht oder Fantasie sein.

Gelingt es auf diesem Wege Probleme zu lösen, führt dies nicht nur zu einer entsprechenden Stressentlastung, sondern auch zum Ansporn, weitere Probleme positiv anzugehen.

Misslingt das, gelangt man in einen Teufelskreis, der, setzt nicht rechtzeitig Hilfe, bei Zweifeln auch professionelle, ein, letztendlich in der depressiven Verharrung enden kann.

In diesem Sinne liest sich das Buch Hüthers dann auch wie ein Psychotherapiebuch für Gesunde. Dabei decken sich die Konsequenzen oft mit dem, was wir aus der psychotherapeutischen Arbeit kennen.

Das Ziel dieses auch für Nichtmediziner und Nichtpsychologen leicht lesbaren Buches mit einer sehr bilderreichen Sprache ist allerdings dann wieder ein mit der Psychotherapie gemeinsames. Es ist die oft – schon revolutionär anmutende – Forderung, Verantwortung zu übernehmen, für sich selbst und für andere und insbesondere für in der Entwicklung befindliche, die noch nicht für sich selber entscheiden können.

Letzteres hat den Autor selbst bewogen, nicht nur im wissenschaftlichen Umfeld tätig zu werden, sondern sich auch generell einzusetzen für bessere Entwicklungsbedingungen von Kindern.

Die „Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn“ endet aber – entsprechend unserem fortschrittlichen Benutzerrecht –mit einem abschließenden Kapitel für Reklamation und Haftung.

Darin versichert Hüther dem Leser: „Falls Sie nach dem Lesen dieser Bedienungsanleitung zu dem Entschluss kommen, dass es bei der bisherigen Benutzung ihres Gehirns gewisse Unzulänglichkeiten gegeben hat [...], so dürfen sie dies als untrügliches Zeichen dafür betrachten, dass Sie nicht nur lebendig sind, sondern auch ein menschliches Gehirn besitzen. Falls sich ein derartiges Gefühl nicht einstellt, so wenden sie sich bitte an ihren Arzt oder Apotheker, so lange sie noch dazu im Stande sind.“HELMUT SCHAAF

Gerald Hüther: Bedienungsanleitung für ein menschliches Gehirn, Göttingen, 2001. Vandenhoeck & Ruprecht, 139 Seiten, 29,80 Mark

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen