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In schöpferischer Unfreiheit

Bayer Leverkusen verpasst die Chance, gegen den FC Bayern München die Fesseln zu sprengen und bleibt mit dem Unentschieden vorerst in bajuwarischer Geiselhaft – bis zum nächsten Freigang

aus Leverkusen ERIK EGGERS

Die Angst vor der Niederlage ist die Perversion des fußballerischen Grundgedankens. Schließlich ist es ja die Philosophie des Spiels, den Ball zwischen die Pfosten des gegnerischen Tores zu treiben. Aber irgendwie gehört diese hübsche Vorstellung längst der Vergangenheit an – jedenfalls ist heute ein Tor nicht einfach ein Tor, sondern immer ein Abwehrfehler, hätte also verhindert werden können.

Wie verwirrend die modernen Fußballzeiten sind, demonstrierte am Samstag wieder einmal der FC Bayern München in der Leverkusener BayArena. Weil in diesem frühen Stadium der Saison bereits mit einer Niederlage belastet, hatte sich die erneut ohne Stefan Effenberg angetretene Mannschaft anfangs gar zu einer Steigerung entschlossen. „Nach zehn Minuten“, hatte das untrügliche Auge Ottmar Hitzfelds beobachtet, „haben wir aufgehört, Fußball zu spielen.“ Er hatte so Recht.

Dabei hätte Bernd Schneider nach fünf Minuten eine turbulente erste Halbzeit einläuten können; er entsann sich jedoch defensiverer Zeiten und spielte dem Münchner Keeper einen butterweich getretenen Ball in den Arm. Und doch war das ein Alarmzeichen für die Abwehr der Bayern, jedenfalls griff diese von da an verstärkt auf das Instrument der Abseitsfalle zurück: Insgesamt 14-mal schnappte sie zu. Die passiven Bayern trafen das erste Mal nach 45 Minuten aufs Tor, als der überzeugende Hargreaves nach einer missglückten Kopfballabwehr Nowotnys abziehen konnte.

Aber dann folgte eine hinreißende halbe Stunde intensiver Fußballatmosphäre. Ein abgefälschter Freistoß Mehmet Scholls in der 50. Minute war das Fanal für die Leverkusener, die sich laut Trainer Toppmöller trotz des schweren Mittwochspiels ohnehin in der Halbzeit vorgenommen hatten, „noch einen Zahn zuzulegen“: Angetrieben von dem hinter den Spitzen agierenden Bastürk und Schneider zogen sie das Tempo an, und „es brannte“, wie Hitzfeld hinterher einräumen musste, „ein paar Mal lichterloh“ im Strafraum der Bayern. Ulf Kirsten erzielte unbedrängt seinen insgesamt 172. Bundesligatreffer.

Wer weiß, vielleicht produzierte auch die Leichtigkeit der dem plötzlichen Tor vorangegangenen, von Bastürk und Neuville inspirierten Kombination besonders viel Adrenalin in den vorher so trägen Blutbahnen der Bayern. Die Maschine des Champions-League-Siegers kam jedenfalls schnell auf Touren. Und das, obwohl Hitzfeld kurz zuvor den angeschlagenen Mehmet Scholl gegen Sagnol ausgewechselt hatte und so das gesamte Mittelfeld der Bayern irgendwie noch unsortierter und konfus wirkte. Aber trotz dieser Unordnung, die sich für Mathematiklehrer Hitzfeld sicher an der Grenze des Zumutbaren bewegte, waren die Akteure des Meisters imstande, nun ihrerseits viele Druckwellen gegen die Abwehr der Leverkusener loszutreten.

Das beschränkte sich erst noch auf die üblichen verbalen Auseinandersetzungen, die in einem gepflegten Trashtalk zwischen Salihamidzic und Schneider mündeten. Dann aber ließ Hargreaves einen Freistoß an den Pfosten krachen, chaotische Szenen im Torraum folgten. Und eine Minute später, gerade hatte mit Jancker ein dritter Bayernstürmer das Spielfeld betreten, war das Unvermeidliche passiert: Nach einer nur zehnminütigen Drangphase der Bayern war der Ausgleich da. Da hätte Schiedsrichter Krug schon abpfeifen können.

Ein frustrierter Oliver Neuville, der selbst einige Chancen vergeigt hatte, brachte es auf den Punkt: „Die haben wenig Chancen und machen das Tor, wir dagegen haben vier, fünf Möglichkeiten und machen auch nur eins.“ Anders und ein wenig brutaler formuliert: Als die vorher lustlosen Bayern sich zu einem Treffer entschieden hatten, da erzielten sie halt einen. Vermutlich hatten die versammelten Gehirne der Bayernspieler in aller Kürze einmal durchgespielt, was im Falle einer erneuten Niederlage geschrieben würde im deutschen Blätterwald.

Der Weltmeistertrainer von 1978, Cesar Luis Menotti, sah in der Furcht vor der Niederlage eine spielzerstörende Kraft. In „Angst und Verkrampfung, schöpferischer Unfreiheit, fehlender Lockerheit“ gehe alle Risikofreude verloren, so der intellektuelle Argentinier. Auch die Bayern spielten am Samstag recht risikoarm, aber das wird sich bald ändern. In Leverkusen reichte noch ein Remis, Dokument des bavarischen Desinteresses. Irgendwann jedoch werden die Bayern auch auswärts gewinnen müssen. Eine tröstliche Perspektive.

Bayer Leverkusen: Butt - Lucio, Nowotny, Placente - Sebescen, Schneider, Ramelow, Bastürk, Vranjes - Kirsten (77. Brdaric), Neuville Bayern München: Kahn - Robert Kovac, Thiam, Linke, Lizarazu (78. Jancker) - Salihamidzic, Niko Kovac, Scholl (68. Sagnol), Hargreaves - Pizarro, Elber (88. Santa Cruz)Zuschauer: 22.500; Tore: 1:0 Kirsten (69.), 1:1 Elber (79.)

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