: Gerti und Petilein
Der Geist von Petra Kelly, afghanische Flüchtlinge und ein weißer Wirtschaftswunder-Wal trafen sich am Lago Maggiore auf politischer Mission. Über imaginäre Dirndl und das Diktat der ersten Einstellung beim 54. Filmfestival von Locarno
von ANKE LEWEKE
Man könnte es das Heidi-Gefühl nennen. In den vergangenen zehn Tagen stürmte ich im imaginären Dirndl durch die Locarneser Kinosäle, wollte jeden Film am liebsten mit einem Jodler begrüßen und fühlte mich in alpine Unschuld gebettet. Es muss wohl die zerklüftete Tessiner Berglandschaft sein, die diese für ein Filmfestival auffallend fröhliche Entdeckungslust auslöst. Überhaupt wirkte alles irgendwie heiter-heidihaft. Der Lago Maggiore sowieso, mit seinen türkisfarbenen Weiten und den hunderten von Ausflugsbötchen. Oder die gelassenen Schweizer Kollegen, die sich nicht als Maß aller Dinge verstehen und die meiste Energie in die Auswahl des nächsten Restaurants investieren. Mit der nonchalanten neuen Festivalchefin Irene Bignardi setzte sich die Unverbissenheit zudem auf repräsentativer Ebene fort, sogar die eingeborene Presse hatte an dem römischen Import plötzlich nichts mehr auszusetzen. Auch die aufmerksamen Hoteliers trugen zum allgemeinen Wohlbefinden bei, indem sie uns jeden Tag ein hauchzartes Schokoladenscheibchen aufs Kopfkissen legten. So diskret, dass ich morgens manchmal in einem klitzekleinen Milkasee aufwachte.
Ob nun der Berg oder das Kino ruft, ist in Locarno machmal fast das Gleiche. Wenn es beim Freiluftkino auf der Piazza Grande schmachtiges Bollywood-Kino mit einem bizarren Plot um Kricket, britische Kolonialherrschaft und indisches Kastendenken zu sehen gibt, wirken die Zuschauer mit ihren staunend aufgerissenen Kulleraugen wie eine Ansammlung von 6.000 japanischen Zeichentrick-Heidis. Das leicht hiphopige indische Epos „Lagaan, once upon a time in India“ führte während der Vorführung zu volksfestartigen Ausbrüchen. Vielleicht ist es das gipfelstürmerische Almgirlie-Feeling, das mich auch zu kategorischen Behauptungen führte. Zum Beispiel, dass man nach den ersten paar Einstellungen weiß, ob ein Film funktioniert oder nicht. Rausgehen oder sitzen bleiben – wobei der schnellste Weg zum nächsten Risotto oder zur achterbahnartigen Seilbahn in Locarno natürlich auch Entscheidungsvektor ist.
Noch ist das Bild schwarz, ein krachendes Geräusch. Schuss, Donner oder platzender Autoreifen? Mit der Spannung des Uneindeutigen spielt der iranische Wettbewerbsbeitrag „Delbaran“. Schauplatz der fortwährenden Irritation ist die iranisch-afghanische Grenze. Es geht um Kaim, einen halbwüchsigen Flüchtlingsjungen, der bei einem älteren iranischen Ehepaar untergekommen ist und fast wie ein eigener Sohn behandelt wird. Die ausschnitthafte Wahrnehmung des Lebens prägt die Sichtweise von Abolfazl Jalilis Film, nicht Geschichten, eher Stimmungsbilder bringt der Regisseur von der politisch aufgeladenen Grenzlinie mit. Von unsichtbaren Gegnern gejagt rennt Kaim durch die karge Wüstenlandschaft, nie nehmen seine Verfolger konkrete Gestalt an. Auf offener Landstraße bekommt jemand sein Auto gestohlen, der Zuschauer sieht nur die Hände, die nach dem Schlüssel greifen. Afghanische Rebellen oder doch nur ganz normale iranische Banditen? Vom Moped bis zum Lkw – stets müssen auf der Strecke gebliebene Verkehrsmittel von Kaim und dem Alten mit kuriosen Hilfsmitteln oder bloßer Muskelkraft wieder auf Vordermann gebracht werden. Ein Motiv, das sich leicht abgewandelt als Runninggag durch den gesamten Film zieht und gleichzeitig Ausdruck eines improvisierten Lebens ist. Manchmal passiert in dem titelgebenden Dörfchen Delbaran auch gar nichts, dann bläst der Wind durch die leeren Gassen, aus der Ferne hört man ein Radio französische Chansons spielen, und plötzlich ist da wieder das rätselhafte krachende Geräusch.
Schon merkwürdig, dass man auch die häufig epigonale Haltung des deutschen Kinos in einer ersten Szene wiedererkennen kann: New York, ein geiler Schlitten und HipHop-Musik. Wenn gleich am Anfang eines Films derart vertraute Ingredienzen aufgefahren werden, fühlt man sich natürlich schnell heimisch. Mit „Love the hard Way“ um einen Kleingangster und eine unbedarfte Biologiestudentin richtet sich Peter Sehr ohne Umwege im gängigen Genrekino ein.
Schon die uncoole pinkfarbene Plüschjacke am Anfang von Iain Diltheys „Ich werde dich auf Händen tragen“ verweist auf eine andere Stoßrichtung. Dilthey, Filmstudent der Ludwigsburger Hochschule (an der Peter Sehr übrigens unterrichtet), sieht sich selbst in der Tradition des deutschen Autorenkinos der 70er-Jahre und sucht seine Geschichten in der nächsten Umgebung – in diesem Fall zwischen den Kohlköpfen und depressiven Wohnzimmern des Hochsauerlandkreises. Weil einer mal nett zu dem Heimkind Ramona ist, glaubt sie direkt, den Mann des Lebens gefunden zu haben. Wohin die Diskrepanz zwischen Quickie und romantischer Zukunftsplanung führen kann, erzählt Diltheys Regiedebüt als naturalistisches Kleinstadtdrama mit dem Ausmaß einer griechischen Tragödie.
Vielleicht ist es die biolekhafte Ausstattung von Martina Gedecks Meisterküche, vielleicht sind es die zähen Überblendungen, vielleicht auch das schleppende Gerede über die Austrocknungsgefahr beim Wachtelkochen – am Anfang von Sandra Nettelbecks „Mostly Martha“ verengen sich die Augen automatisch aufs Fernsehformat. Auch die Geschichte passt wunderbar zur besten Sendezeit: Zickig-introvertierte Starköchin kann nicht über ihren Tellerrand hinausschauen, verliert ihre Schwester und wird durch deren Töchterchen endlich mit dem Leben und der Liebe konfrontiert. Nach diesem einlullenden Almdudler fuhr ich mit ein paar Freunden erst mal zur Erholung an den idyllischen Wasserfall in der Maggia-Schlucht. Der vorsichtige Köpper ins eiskalte Wasser war wiederum die ideale Vorbereitung für den Film des Schweizers Thomas Imbach.
Gleich am Anfang werden in „Happiness is a warm gun“ alle Regler hochgezogen. Auf dem Gepäckband eines Flughafens gleitet eine verschreckte Petra Kelly mit Einschussloch in der Schläfe in die Gegenwart zurück. Gert Bastian ist auch schon da. Mit den Kosenamen Gerti und Petilein fallen die beiden 95 hysterische Minuten übereinander her, reden ununterbrochen vom Bumsen und kommen doch nicht zur Sache. Imbach inszeniert die Beziehung zwischen der Grünen-Politikerin und dem ehemaligen General als einzige Schrei- und Schlagorgie, am Ende jedes Ausbruchs gibt es kurzfristige Streicheleinheiten und er schlabbert zufrieden Eigelb über sein Brusthaar. Das klingt anstrengend, ist es auch. Andererseits befreit der bizarr-nervige Tonfall das öffentliche Bild von Petra Kelly aus dem postumen Betroffenheitsdiskurs. Dass solche Monstrositäten bei der Preisverleihung hintenüberfallen, ist nicht weiter verwunderlich. Zum Ausspionieren der Jury (sieben Frauen und ein Mann) legt man in Locarno einfach eine Cappuccino-Pause auf der feudalen Terrasse des Hotels Reber ein. In den ersten Tagen schien noch alles friedlich, in der Mitte drifteten die ersten Grüppchen auseinander und am Ende befand man sich kurz vorm Damencatchen. Auch in dieser Hinsicht war die Entscheidung für das niedlich-nette italienische Polit-Roadmovie „Alla rivoluzione sulla due Cavalli“ umstritten.
Das junge Kino werde realitätsnäher und politischer, hatte die Locarno-Chefin Irene Bignardi verkündet und belegte den neuen Wind selbst mit einer politischen Geste, indem sie kurz vor der Preisverkündung den Rohschnitt eines Videotagebuchs über die Ausschreitungen beim G-8-Gipfel in Genua zeigte. Die politischste Figur des ganzen Festivals war für mich ein junger Beluga-Wal. Mitte der 60er-Jahre kreuzte er plötzlich im Duisburger Hafen auf. In seinem Dokumentarfilm „Der weiße Wal“ entwickelt Stephan Koestler anhand der mehrwöchigen Rheinreise des einsamen Kerls eine Phänomenologie des deutschen Wirtschaftswunders. Mythischerweise hielt der Beluga Kurs auf den Deutschen Bundestag, wo er eine Debatte sprengte und die Minister angeblich zur Sanierung des Rheins bewegte. Danach verschwand er schnurstracks im offenen Meer.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen