Zerreißprobe mit Video

Am echtesten aber ist die Panne: Die Gruppe „matthaei & konsorten“ zeigt „Die Bakchen“ im Kunstforum Elisabeth, ohne zu berauschen. Denn die Tragödie und Berlin, das sind zwei paar Schuhe. Und die Inszenierung baut keine Brücke

Der Gott Dionysos ist ein Fleischberg, der am Ende die Moral der Geschichte serviert: „Nichts ist ungeheuerlicher als der Mensch.“ Er kam nach Theben, um seinen Kult der Ekstase einzuführen. Doch König Pentheus will sich der urwüchsigen Macht nicht beugen. Der Gott lässt ihn von seiner eigenen Mutter und den Frauen der Stadt zerreißen. So steht es bei Euripides. Sind die wilden Triebe im Menschen entfesselt, wird der Mensch ihrer nicht mehr Herr. „Die Bakchen“ – hoppla, eine Geschichte für heute. Wenn die Geschichte erzählt wird.

Nach dem Einlass durch das dunkle Treppenhaus des Kunstforums Elisabeth blickt man von der Galerie auf den parkettierten Bühnenraum, in dessen Mitte ein Holzpodest steht. Vier in togaartige Gewänder gehüllte Gestalten sitzen auf den Stufen, wie Gläubige vor einer Zeremonie. Betäubend steigt Räucherduft auf. Ein schwerer Mann, barfüßig, begrüßt die Zuschauer mit psalmodierender Stimme. Soll das Oper sein? Ein Gottesdienst? Mit der Taschenlampe leuchtend führt der Sänger durch eine Tür, über der „Notausgang“ steht, zur Spielfläche hinab. Das Publikum in der Rolle der Bakchantinnen, die den Gott bei seinem Einzug in Theben begleiten.

Man sitzt, der Videobeamer springt an und Passanten lesen zu Straßengeräuschen den Chor. Erheiternde Typenschau. Doch vor allem wird offenkundig, dass Berlin und Tragödie zwei Paar Schuhe sind. Über diese Lücke hinweg müsste die Inszenierung dem Zuschauer eine Brücke bauen. Der Regisseur hat sich, im Ansatz spannend, dafür entschieden, das Fremde und Andere nicht spielen zu lassen, sondern in realer Verkörperung auf die Bühne zu bringen: Zum fünfköpfigen Ensemble gehören ein blinder Mann (Bernd Kebelmann), ein taubstummer Junge (Robert Grund) und eine Frau mit Tourette-Syndrom (Christiane Kant). Das heißt: Kein Schauspieler gibt hier den blinden Seher Teiresias. Der Darsteller ist es – und spielt nicht. Aber Jörg Lukas Matthaei, der zuletzt „Lockerungsstufe 4: Frank Schmökel“ in der Staatsbank inszenierte, lässt dem Blinden zwei Muppet-Puppen über die Hände ziehen. Und Kebelmann schauspielert, mit gellender Stimme. Der anfängliche Eindruck des Fremden wird so rasch ausgetrieben.

Die Schlachtung des Pentheus zeigt Robert Grund in Gebärdensprache. Die Off-Stimme dazu kann er nicht hören, doch er lässt die Arme fliegen, dass es fast Tanz ist. Aus seinem Mund dringen helle Laute, und er schlägt sich heftig auf Brust und Arme. Verkörperung der Raserei. Was an diesem Abend nicht „echt“ ist, bleibt dagegen statisch.

In einer der vielen Videosequenzen versammelt sich ein Menschenhaufen in der Aula des St.-Elisabeth-Altenheims und hakt sich Wort für Wort durch die Tragödie. Auf der Bühne werden die besonderen Darsteller gegen ihre Eigenheiten in das Korsett einer Inszenierung gezwängt. Heraus kommt streckenweise Laientheater – leider. „Kein Eingangssignal erkannt – Bitte Anschlüsse prüfen“ kommentiert der Videobeamer an der Rückwand. Statt Selbstironie ist es wieder was „Echtes“. Eine Panne.

Bevor nach zwei zähen Stunden endlich Schluss ist, fallen die Seitenwände des Podestes, auf dem sich der Fleischberg Dionysos flätzt, effektvoll auseinander. Kein Geheimnis verbirgt sich darin. Der Gott ist bloß ein angejahrter Sänger (Norbert Decker), der auf der Bretterbühne seine Verse nölt. Im Hintergrund hoppeln zwei Kaninchen durch ein Terrarium. Die Natur zeigt sich an diesem Abend gar nicht drohend-dionysisch, sondern munter und possierlich. Der Rest sind Worte und Videos, denen es an Überzeugungskraft fehlt.

KAI SCHUBERT

17.–19., 24.–26. August, jeweils 21 Uhr, im Kunstforum Elisabeth, Invalidenstraße 4, Mitte