: Mutationen in der Lotterie des Zufalls
Salzstreuer in Salzburg und andere Ungeheuerlichkeiten: Die Londoner Gruppe Primitive Science pflegt die Konstruktion des Geheimnisvollen. Bei den Salzburger Festspielen wird ihr – selbstredend unergründliches – „Invisible College“ uraufgeführt
von CHRISTIANE KÜHL
Ein Zufall kann das nicht gewesen sein. An diesem Freitagmorgen in London Tottenham, genau zwei Wochen vor der Uraufführung von „The Invisible College“, dem jüngsten Projekt von Primitive Science. Zum Interview hatten wir uns in einem griechischen Café, nicht weit von ihrem Probenraum im Wingate Trading Estate, verabredet, Kaffee duftete, Geschirr klapperte, Handys klingelten. Alles ganz alltäglich. Bis auf den Salzstreuer. Im Zentrum unseres sonnenüberfluteten Tisches stand ein großer, gläserner Salzstreuer, und in ebendiesem Salzstreuer stakste eine langbeinige Ameise. Selbstvergessen und majestätisch. Ein Kamel in den Dünen der Sahara. Ein Astronaut beim Ertasten des Mondes. Ein Hund der Apokalypse. Trunken in einer weiten, weißen Landschaft.
Primitive Science ist eine Londoner Theatergruppe, die das Image des Geheimnisvollen pflegt. Zu manchen ihrer Vorstellungen laden sie ausgewählte Individuen per Post ein, ohne Absender, ohne Erklärungen, allein mit Zeit und Ort der Aufführung versehen. Wobei es sich beim Ort selten um ein Theater handelt, eher um einen Schlachthof oder eine stillgelegte Fabrik. Im Umschlag liegt dann vielleicht noch ein kleines Objekt, das der fantasiebegabte Empfänger metaphorisch deuten kann – und schon ist er Teil der Konspiration. Besonders in London, wo den weitaus größten Teil der Well-made-Play-, Musical- und Shakespeare-Industrie überhaupt kein Geheimnis mehr umweht, kann man sich so einen erklecklichen Fan-Club erspielen.
Der Fan-Club von Primitive Science ist im Laufe ihres sechsjährigen Bestehens weit über die britische Gemeinde hinausgewachsen. Im vergangenen Sommer war die Gruppe um Marc von Henning und Boz Temple-Morris mit „Icarus Falling“, für das sie 1999 den Time Out Live Award erhielten, bei den Theaterformen/Expo 2000 zu Gast, in diesem Jahr haben sie einen Stückauftrag von den Salzburger Festspielen bekommen. Alles ist also eine Nummer größer geworden – doch die Lust am Klandestinen ist geblieben. Anfang der Woche hat die taz-Redaktion einen Brief erhalten, dessen Absender sich als Mitglied des „wahren“ Invisible Colleges vorstellt und in gespreizter Sprache um nichts anderes bittet, als die trivialen Aktivitäten von Primitive Science unter diesem Namen zu ignorieren. Im Interview geben die künstlerischen Leiter auch nicht mehr preis, als dass das Stück, das heute Abend uraufgeführt wird, von Erzählungen Jorge Luis Borges’ inspiriert ist. Und in einem Bühnenbild aus – Hallo, Ameise! – einhundert Tonnen Salz spielt. Eine weite, weiße Landschaft.
Visual storytelling ist der Begriff, der die Arbeit von Primitive Science am besten beschreibt. Zum Kern der Gruppe gehören neben Regisseur von Henning und Dramaturg Temple-Morris ein Bühnenbildner, eine Kostümbildnerin, ein Komponist und ein Lichtdesigner, jedoch keine festen Schauspieler. Texte haben in den Stücken nicht mehr Bedeutung als Bewegung oder irgendein anderes theatralisches Element. Dramenvorlagen interessieren sie nicht. Worum es geht, ist Atmosphäre. „Wir zeigen bewegte Bilder“, erklärt von Henning, und wie gute Gemälde sollen die Arbeiten auch rezipiert werden: „Ich mag es, wenn Sachen nicht gleich verständlich, aber fesselnd sind. Wenn sie zuerst die Imagination ansprechen, aber das Versprechen eines intellektuellen Unterleibs tragen.“
Ausgangspunkt für „The Invisible College“ war „Die Lotterie in Babylon“, eine typische, großartig verwirrende Borges-Geschichte. Erzählt wird von „einem Schwindel erregenden Land, in dem die Lotterie Hauptbestandteil der Wirklichkeit ist“, bzw. wie es dazu kam. Am Anfang stand die plebejische Belustigung, das Spiel mit Glückslosen, doch bald kam die Reform; Unglückslose wurden untergemischt, erst einige, dann mehr. Später wurde die Lotterie allgemein und geheim. Jeder nahm teil, wurde jedoch über die Ziehungen nicht mehr informiert. Die Lotterie, sprich der organisierte Zufall, wurde zum Schicksal des Einzelnen gleichwie der Nation. Jeder Lebensbereich, selbst der Tod wurde über sie geregelt. Die Zahl der Ziehungen war unendlich. Alles war Zufall. Die Lotterie hatte sich selbst aufgehoben, aber fraglos eine ganze Reihe hübscher Neurosen hinterlassen.
„Die Menschen mögen es, hinters Licht geführt zu werden“, bemerkt Marc von Henning. Ein Bedürfnis, dass Primitive Science gerne befriedigen. „Denken Sie an diese Situation im Bahnhof“, erklärt Boz Temple-Morris. „Man sitzt im Zug und blickt auf den am Nebengleis. Dann fährt man ab – bis man merkt, dass der andere Zug rückwärts rollt. Das Interessante daran ist, wie man plötzlich die letzten fünf Sekunden re-interpretiert – man hatte ja sogar seinen Kaffee schwappen sehen.“ Auf diesen Moment kommt es an: „Das Publikum losschicken, ohne es loszuschicken.“ Illusionen zu kreieren, deren Zusammbruch interessanter als ihr Funktionieren ist.
Wie die beiden Männer dabei an die wirklichkeitsverändernde Kraft des Theaters glauben, ist fast schon rührend. Von Henning, Kind eines Deutschen und einer Engländerin, der einen Teil seiner Kindheit in Sambia verbracht hat, nennt das Theater eine „relevante kulturelle Praxis“, und auch seine Ausführungen würden mit Kusshand in jedes theaterwissenschaftliche Kompendium aufgenommen: „Theater ist ein gefährliches Instrument in der Hand des Volkes. Es ist der einzige Ort außer der Kirche, an dem Menschen sich versammeln. Man atmet zusammen. Alles ist möglich in diesem Moment. Diese Qualität der Gefahr macht Theater so potent – egal, welches Stück gespielt wird.“
Eine weit größere Gefahr, die dem Theater innewohnt, ist allerdings die, genau diese Qualitäten nicht zu nutzen. Als Livemedium in der Wiederholungsfalle zu ersticken. Als Primitive Science 1995 gegründet wurde, war es von Henning entsprechend wichtig, sich nicht als „Theatergruppe“ zu begreifen: „Die Idee ist, sich als Geschwür zu verstehen, als Tumor, der zwar keine Chance auf Überleben hat, wohl aber eine Chance, auf den Körper, von dem er sich ernährt, einzuwirken.“ Das Klima in London, erklärt Temple -Morris, war und ist extrem hart. Es gibt kaum Subventionen, aber viel Konkurrenz. „Man muss sich hier seine eigenen Möglichkeiten generieren. Primitive Science ist unsere autonome Zone.“ Ein ortloser Ort, wo am liebsten Stoffe über Stoffe geworfen werden. Theater über Texte über Bilder über Epen. Um ein bisschen am Mythos mitzustricken.
Im Zentrum der Arbeit an „The Invisible College“ steht die Faszination für Transformationen und Transmutationen. Ursprünglich sollte ein Chemiker auf der Bühne arbeiten, der Objekte wirklich verändert und in andere Zustände überführt. Aber nachdem die Gruppe einen Ausflug zu einer Salzfabrik in Nordengland gemacht hatte, war sie so überwältigt von dem Eindruck, den eine weiße Landschaft auf die Fantasie haben kann, dass ihr alle anderen visuellen Spielchen überflüssig erschienen.
Das Salz. Woher diese Idee überhaupt kam? „Oh.“ Boz Temple-Morris lächelt. „Es ist eigentlich immer so, dass Marc und ich eine Idee haben und unser Bühnenbildner sich dann alle erdenkliche Mühe gibt, uns gegen die Wand laufen zu lassen.“ Eine Art produktiver Sabotage. Nach der Besichtigung des Stadtkinos in Salzburg, eines sehr schönen Raums mit rohen Wänden, wie von Henning und Temple-Morris sie für ihre Uraufführungen lieben, ging Dick Bird in ein kleines Café am Ort. Er überlegte. So richtig wollte ihm nichts einfallen. Bis sein Blick auf den Salzstreuer fiel.
Infos unter www.salzburgfestival.at oder www.primitivescience.com
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