piwik no script img

„Keiner darf wegsehen“

Kontrolle ist besser: Um Kinder vor elterlicher Misshandlung zu bewahren, sind Nachbarn, Bekannte und Verwandte gefordert  ■ Von Gesine Kulcke

Irgend etwas knallt gegen die Heizungsrohre, einmal und noch einmal. Ein Kind schreit, eine Frau brüllt. Dann Stille – bis es wieder knallt. Und die Nachbarin hört alles mit. Verzweifelt überlegt sie, was sie tun soll: Die Polizei rufen, das Jugendamt? Aber was soll sie denen erzählen? Sie weiß ja nichts Genaues, sie ahnt nur, dass ein Stockwerk über ihr etwas nicht stimmt. Die Blockwartin spielen will sie auf keinen Fall.

Doch dann kann sie die Schreie nicht mehr ertragen. Sie ruft das Jugendamt an. Anonym, ohne Namen zu nennen. Die will zu ihrem Erstaunen auch keiner wissen. Im Gegenteil. Die Mitarbeiterin am Telefon rät ihr, privat Hilfe anzubieten, statt mit Polizei oder Behörde zu drohen. „Damit riskiert man nur, dass einem die Tür vor der Nase zugeschlagen wird“, sagt Maria Gerhard vom Jugendamt. „Dem Kind ist damit nicht geholfen, und was genau in der Wohnung passiert, weiß man dann auch nicht.“ In der Tat: Einige Tage später ruft die besorgte Nachbarin wieder an und erzählt, dass niemand gegen die Heizung geschlagen wurde, sondern das Kind gemeinsam mit Freunden immer wieder gegen die Rohre klopfte, und die Mutter am Rande eines Nervenzusammenbruchs zwar brüllte, ihr Kind aber nicht misshandelte.

Dies ist eine von vielen Geschichten, mit denen Maria Gerhard ständig konfrontiert wird. Sie hat ein glückliches Ende gefunden, ist aber deshalb beileibe kein Anlass, sich generell nicht einzumischen. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass solche Anrufe auf Schwerwiegendes hinweisen, ist groß: Eine Befragung unter 3600 Hamburger SchülerInnen der neunten Jahrgangsstufe hat 1998 ergeben, dass 26,9 Prozent der Jugendlichen bis zum Ende ihres zwölften Lebensjahres Opfer gravierender Formen elterlicher Gewalt waren. Und gravierend heißt nicht etwa die berühmte Ohrfeige oder der Klaps auf den Hintern, obwohl auch diese seit Beginn des Jahres durch das „Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung“ verboten sind.

Ein neues Leitbild der Erziehung soll mit dem Gesetz geschaffen werden, sagen die Bundesfamilienministerin Christine Bergmann und Bundesjustizministerin Herta Däubler-Gmelin. Doch den Eltern die gesetzliche Legitimation zu entziehen, wird es alleine nicht richten. „Wir brauchen die soziale Kontrolle der Nachbarn, der Bekannten und Verwandten“, erklärt der Leiter des Hamburger Jugendamtes, Dr. Herbert Wiedermann. „Keiner darf wegsehen.“ Häufig sei die Gewalt in Familien ein Zeichen dafür, dass die Eltern überfordert seien, ihrem Alltag nicht mehr gewachsen. „Es gibt einen eindeutigen Zusammenhang zwischen der sozialen Lage und der Gewaltanwendung in Familien.“ Das solle nicht heißen, dass jeder Sozialhilfeempfänger sein Kind schlage, wohl aber, dass soziale Benachteiligung und Isolation eine Ursache der Gewalt sein kann.

Die MitarbeiterInnen im Jugendamt geben besorgten Außenstehenden individuelle Ratschläge zur Kontaktaufnahme. „Privat Hilfe anbieten, wie zwischendurch das Kind hüten oder den ein oder anderen Einkauf erledigen, wird die Gewalt nicht stoppen, entlastet aber und ermöglicht einen Dialog, in dem auf professionelle Hilfsangebote aufmerksam gemacht werden kann.“ Erziehungsberatungsstellen zum Beispiel, von denen es in jedem Bezirk mindestens eine gibt. Oder das Kinderschutzzentrum, das nicht nur Eltern als Täter und Kinder als Opfer, sondern eben auch Beobachtende von Gewalttaten kostenlos telefonisch berät.

Besteht jedoch eine unmittelbare Gefahr für das Kind, wird keiner der Sozialpädagogen und Psychologen zur Hilfe eilen. Zuständig ist dann das Jugendamt, das die Kinder in Sicherheit, sprich in eine Pflegefamilie oder Wohngruppe, bringt, erklärt Ulrich Kaulen vom Kinderschutzzentrum. Wird ein Kind nachweislich geschlagen und körperlich misshandelt, sollte sofort das Jugendamt eingeschaltet werden. Und alles, was beobachtet wird, muss protokolliert werden. Denn ein Gericht verlangt Beweise, bevor es das Sorgerecht der Eltern einschränkt oder gar entzieht, um das Kind zu schützen.

Kinderschutzzentrum Tel.: 491 00 07 und 790 10 40 für den Bereich Süderelbe; Erziehungsberatungsstelle, Tel.: 428 11 21 01 (Altona, weitere Telefonnummern gibt es bei den Bezirksämtern); Amt für Jugend, Tel.:428 63 39 20

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen