: Auerochsen vor Plattenbauten
Vor den Toren Marzahns lässt eine Naturschutzstation urwüchsige Rinder in freier Natur leben. Für Spaziergänger steht am Rande des Geländes ein Schild: „Vorsicht! Freilaufender Bulle! Lebensgefahr!“ Eine Safari in der Serengeti am Rande Berlins
von KIRSTEN KÜPPERS
Hinter der Hochhaussiedlung Marzahn kommt ein Elektrozaun. Dahinter zeigt sich ein entspanntes Bild von Freiheit: eine wilde Herde großer, brauner Tiere zieht über nasse Wiesen, das Gras steht hoch.
Eigentlich wurde die letzte Auerochsenkuh 1627 in den weiten polnischen Wäldern erschossen. Von einem Wildhüter des Gebietes Jaktorów, 60 Kilometer südwestlich von Warschau. Mit einem dumpfen Knall erlegte der Mann das einzige übrig gebliebene Exemplar einer ungezähmten Rinderart. Dass heute trotzdem wieder wilde Auerochsen vor den Plattenbauten von Marzahn grasen, ist keine merkwürdige Verirrung der Natur, sondern eher das zufällige Ergebnis einer langen Suche nach Ursprünglichkeit, die hier im handfesten Engagement einiger vorstädtischer ABM-Kräfte ihre Vollendung findet.
Angefangen hat die Geschichte mit den Auerochsen in den 20er-Jahren bei den Gebrüdern Heck. Der eine Heck war Zoodirektor in Berlin, der andere Chef des Tierparks in München. Die Brüder wollten sich unter Kollegen einen Namen machen. Eine ausgestorbene Tierart wiederzubeleben, versprach Aufsehen in der Fachwelt. Auf den Auerochsen kamen die Hecks, weil die Rückzüchtung einfach schien. Jedes gewöhnliche Hausrind trug die Eigenschaften des wilden Vorfahren in seinen Genen. Und tatsächlich gelang der neue Auerochse den Brüdern Heck dann auch fast originalgetreu: etwas kleiner, aber kräftig und muskulös, mit glänzend schwarz-braunem Fell. Die Brüder tauften ihr Produkt nach ihrem Namen: „Heckrind“.
Damit war also ein Stück Wildnis zurückgewonnen. Und wenn die ABM-Kräfte der Naturschutzstation Malchow nun vor vier Jahren drei Auerochsen von einem Heckrinderzuchtverein aus Sachsen-Anhalt gekauft haben, dann geschah das, weil sich die Idee der Brüder Heck noch weiter träumen ließ. Die Rinder versprachen die Verwirklichung eines alten Naturzustands, eine Art Serengeti am Rande der Großstadt.
Eine schöne Vision. Die Böden des Berliner Nordostens sind schlecht. Teilweise wurden sie bis in die 80er-Jahre hinein als Rieselfelder genutzt. Nach der jahrzehntelangen Versickerung des großstädtischen Abwassers sind die Flächen mit Giftstoffen belastet. Bei der Trockenlegung bleiben öde Brachen zurück. Deswegen und weil man wohl auch nicht wusste, was sonst mit den alten Falkenberger Rieselfeldern anfangen, hat die Bezirksverwaltung das Gebiet vor den Marzahner Hochhausriegeln als Naturdenkmal unter Schutz gestellt.
Denn auch wenn die 86 Hektar landwirtschaftlich kaum mehr nutzbar sind, bietet die Landschaft mit ihren Teichen, Spülflächen und Dämmen immer noch wertvollen Lebensraum für gefährdete Amphibien- und Vogelarten. Rotbauchunken, Knoblauchkröten und Moorfrösche laichen hier, neben hundert anderen Vogelarten finden sich im feuchten Gelände Fasane, Schleiereulen, Flussregenpfeifer.
Um den Grünkorridor für diese Tiere erhalten zu können, muss man die Graslandschaften jedoch offen lassen, eine „Verwaldung“, wie es in der Fachsprache heißt, verhindern. Das ist teuer. Man muss nicht nur Mähmaschinen bezahlen, sondern auch Menschen, die diese Apparate bedienen. Heckrinder sind als lebende Rasenmäher billiger.
Auch aus Kostengründen also, hat die Naturschutzstation Malchow, die sich um die Falkenberger Rieselfelder kümmert, 1997 die Auerochsen aus Sachsen-Anhalt geholt. Die drei Tiere haben sich inzwischen zu einer elfköpfigen Herde vermehrt. Für Spaziergänger steht am Rande des Geländes ein Schild: „Vorsicht! Freilaufender Bulle! Lebensgefahr!“ Der Traum von ungestümer Wildheit vor Plattenbauten funktioniert.
Tatsächlich handelt es sich beim Auerochsenprojekt um eine Art Freilandlabor, in dem die Beschäftigten der Naturschutzstation versuchen, einen möglichst naturnahen Zustand der Verwilderung herzustellen. „Wir räumen hier nicht auf“, erklärt der 57-jährige Leiter der Station, Arvid Goltz. Es wird weder gegen Schädlinge gespritzt, noch werden Tierkadaver beseitigt. Auch die Auerochsen sind das ganze Jahr auf dem Gelände. Kein Mensch füttert oder tränkt die Rinder, selbst im Winter nicht. Nur einmal im Jahr, schreibt das Gesetz vor, müssen sie auf Seuchen untersucht werden. Auerochsen sind robust, mehr Pflege brauchen sie nicht. 1999 erhielt die Naturschutzstation für ihr Projekt den Berliner Umweltpreis.
Die Falkenberger Rieselfelder sind nicht das einzige Gebiet, das mit Auerochsen preiswerte Wiesenpflege wie in einer unberührten Savannenlandschaft betreibt. Ähnliche Projekte finden sich in Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Holland. Es könnte sich sogar um das Naturschutzmodell der Zukunft handeln, sagen Experten. Schätzungen gehen davon aus, dass in den nächsten Jahren allein in Deutschland eine Million Hektar Brachland neu entsteht, weil sich die Bewirtschaftung nicht mehr lohnt. Die Rückführung in eine Urwüchsigkeit mit weidenden Großtierherden muss also nicht auf den Berliner Stadtrand beschränkt bleiben. Vor der letzten Eiszeit kamen die Auerochsen in ganz Mitteleuropa vor, sie waren von Südskandinavien bis Nordafrika verbreitet, in weiten Teilen Chinas bis zum Japanischen Meer.
Auf den Falkenberger Rieselfeldern läuft die Sache jedenfalls gut an, meint Arvid Goltz. Manchmal beschweren sich die Nachbarn in den Plattenbauten über das Geschrei der Auerochsen. Und einmal musste ein streitbarer Heckrindbulle doch geschlachtet werden. Das ergab gute Filetsteaks, sagt Goltz. Eigentlich ist er von Beruf diplomierter Fischerei-Ingenieur.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen