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Was in einem überschaubaren und abgeschiedenen Berliner Bezirk 1989 alles nicht passierte: Sven Regeners Kreuzberg-Roman „Herr Lehmann“

Die historischen Bewusstseinsströme wehen nicht an jeder Ecke und in jeder Biografie gleich stark herum

von GERRIT BARTELS

Es gibt Bücher, die fängt man an zu lesen, und ehe man sich’s versieht, sind sie schon wieder zu Ende. Nicht dass sie nun besonders spannend wären und geradezu verschlungen werden wollen; schon eher, weil sie so gemächlich beginnen, noch gemächlicher weitergehen und dann so einen flauschigen Eindruck vermitteln, dass man darüber ganz vergisst, dass man sie schon lange wieder weggelegt haben wollte.

Sven Regeners Debütroman „Herr Lehmann“ ist so ein Buch. Es fängt damit an, dass der Held, der kurz vor seinem 30. Geburtstag stehende Frank Lehmann, den alle seine Freunde nur Herrn Lehmann nennen, eine Begegnung mit einem Hund hat. Herr Lehmann hat die ganze Nacht in einer Kreuzberger Kneipe gearbeitet, und er ist an einem frühen Morgen des Sommers 1989 auf dem Weg in seine ebenfalls in Kreuzberg gelegene Wohnung. Der Hund aber kreuzt seinen Weg, lässt ihn nicht vorbei, und Herr Lehmann trinkt mit ihm dann eine Flasche Whisky. So weit, so unspektakulär.

Als Herr Lehmann schließlich in sein Bett kommt, weckt ihn nach drei Stunden Schlaf das Telefon; seine Mutter ist dran, um ihm zu erzählen, dass sie ihn in ein paar Monaten besuchen möchte. Es entspinnt sich ein Dialog, den wahrscheinlich alle 20- bis 30-Jährigen zu allen Zeiten überall auf der Welt nur allzu gut kennen, und es folgen in den nächsten Kapiteln Auftritte von Herrn Lehmann in der Kreuzberger Markthalle, im Kreuzberger Prinzenbad und wieder in der Kreuzberger Kneipe.

Kreuzberg hier, Kreuzberg da, man merkt schnell, dass Herr Lehmanns Welt eine überschaubare ist: Sven Regener, ansonsten von Beruf Sänger und Texter der Berliner Band Element Of Crime, hat mit „Herr Lehmann“ einen Kreuzberg-Roman geschrieben, einen Roman über das einstmals SO 36 genannte Kreuzberg kurz vor dem Mauerfall am 9. November 1989, an dem, wie es der Zufall und vor allem Sven Regener so wollen, auch Herr Lehmann seinen 30. Geburtstag feiert.

Viel Veränderung stünde also an in Berlin und bei Herrn Lehmann, und trotzdem lässt es sich schön wohnlich einrichten in Regeners Buch. Das liegt sicher an dem sympathischen und gezielt planlosen Herrn Lehmann, der keiner Fliege was zu Leide tun kann und für den das Leben umso besser ist, je unaufgeregter es vonstatten geht.

Das liegt sicher auch an Kreuzberg, wie es Regener in seiner ganzen Begrenztheit beschreibt und das schon in seinem anderen, vermeintlich schickeren Teil, dem einstigen 61, eine völlig andere Welt ist. An einem Kreuzberg also, das vielleicht wirklich einmal in den späten Siebziger- und Achtzigerjahren so gewesen sein muss: eine Enklave am Ende der Welt, in der sich alle fein fühlten im Schatten der Mauer, in der alle in Ruhe an alternativen oder bohemistischen Lebensentwürfen arbeiten konnten, fernab der westdeutschen Provinzen und Elternhäuser, fernab aber auch von anderen Berliner Bezirken wie Neukölln oder Charlottenburg und erst recht von Reinickendorf oder Lichterfelde, wo es ja auch nicht anders zuging als in Darmstadt, Kassel oder Offenburg. Seltsame und fremde, ferne und versunkene Welt. (Obwohl gerade das Berlin-Mitte der letzten Jahre nicht selten an das alte Kreuzberg erinnert hat.)

Nun mögen sich viele ältere Kreuzberger sicher so gar nicht identifizieren mit Herrn Lehmann und seinen Freunden und Sven Regener das auch übel nehmen – da ging doch mehr, da war doch alles viel aufregender, das ist doch gar nicht repräsentativ! Das wenige aber, das ist, gelingt Regener richtig gut, selbst so notorisch Abgehangenes wie den Elternbesuch, die ständigen Kneipenwechsel, die Fahrt mit der BVG an den Ku’damm, den Stolz, schon jahrelang in Berlin zu sein, vermag er so unpeinlich wie möglich zu schildern. Mehr jedoch ist auch nicht mit Herrn Lehmann, von Lebensentwürfen hält er gar nichts. Irgendwas wird passieren in den nächsten Jahren, und der Rest ergibt sich. Gut möglich nur, dass für ihn von den tausendundein Möglichkeiten schon tausend vertan sind und er auch heute noch zwischen den Kneipen „Einfall“, „Ausfall“ und „Anfall“ pendelt und dort auf Gleichgesinnte trifft.

So wie er durch Leben und Zeiten gleitet, hat Regeners Herr Lehmann natürlich auch Kumpels aus der Literatur. Michael Kumpfmüllers Hampel zum Beispiel, dem das Leben ebenfalls einfach so mitspielte. Oder Frank Goosens Helmut, der wie Herr Lehmann die sich anbahnenden historischen Veränderungen auch nur am Rande und reichlich desinteressiert im Fernsehen wahrnahm. War zwar viel los gewesen seinerzeit, doch mit den historischen Bewusstseinsströmen und den Mänteln der Geschichte ist das so eine Sache: Die wehen nicht an jeder Ecke und in jeder Biografie zugleich herum, die sind vielen eben doch einfach so am Allerwertesten vorbeigegangen. Nicht jeder neigt zu Furor, zu Aufbegehren, und mit Sven Regeners Musik bläst man in der Regel auch am liebsten allein im stillen Kämmerlein Trübsal. Stören tut es eher, dass Regener „Herr Lehmann“ genau auf den 9. November hingeschrieben hat. Das wirkt arg konstruiert und effekthascherisch – hat aber seine Wirkung nicht verfehlt: Das literarische Quartett nahm sich des Buches an, sorgte für die vorzeitige Veröffentlichung und führte dazu, dass „Herr Lehmann“ so geschwind durch den literarischen Betrieb gereicht wurde wie vor einigen Jahren Benjamin Leberts „Crazy“.

Trotzdem begleitet man Herrn Lehmann viel lieber durch das Kreuzberg des 9. November 1989 als beispielsweise eine Figur wie Peter Schneiders Eduard, der zwei Jahre nach der Wiedervereinigung an jeder Ecke meinte Veränderungen wahrnehmen zu müssen und sich gern mal im Angesicht der Quadriga mit seiner Partnerin vereinigte. Sven Regener hat da ein ungleich leichteres, lockeres Buch geschrieben; ein Buch, das trotz seines Phlegmas (und das des Herrn Lehmann) durchaus zu Widersprüchen reizt und Langzeitwirkungen entfalten könnte. Und Kreuzberg? Gibt es immer noch und steht nach Jahren des Niedergangs gerade wieder hoch in den Charts.

Sven Regener: „Herr Lehmann“. Eichborn Berlin 2001, 298 Seiten, 36 DM