„Gib' mir 100 Mark“

■ Ein Jahr und neun Monate auf Bewährung lautet das Urteil für Kiosk-Überfall– aber nur, weil die Pistole nicht geladen war

Marion B. hatte die ganze Nacht mit einer Freundin durchgekokst. Am nächsten Morgen war sie total aufgedreht, weil sie pleite war und neuen Stoff brauchte. „Ein beginnender Affe also“, charakterisierte Strafrichter Friedrich Wulf die einsetzenden Entzugserscheinungen kenntnisreich. Gestern wurde gegen die Drogenabhängige vor einem Schöffengericht wegen räuberischer Erpressung verhandelt.

Beherscht von dem Gedanken „Wo krieg ich nur das Geld dafür her?“, rannte die Angeklagte im August 1999 in der Stadt umher. Endlich gab ihr ein Bekannter wenigstens eine Luftpistole, die sie „verticken“ sollte. Als das nicht klappte, betrat sie gegen zehn Uhr einen Kiosk in der Friedrich-Ebert-Straße, zog die Waffe und forderte das ganze Geld aus der Kasse. „Das lohnt sich doch am Morgen noch gar nicht!“, erwiderte die Verkäuferin. Sie hielt die Waffe nicht für echt. Marion B. protestierte: “Dann gib mir 100 Mark! Wenigstens 50 . . .“ Die Verkäuferin konnte, wie sie aussagte, Marion B. in ein Gespräch „von Frau zu Frau“ verwickeln. Dabei kam man schließlich auf die kleine Tochter vom Marion B. zu sprechen. Zwei Kundinnen gesellten sich hinzu, bis die Polizei kam – heimlich hatte die unerschrockene Verkäuferin einen Alarmknopf gedrückt.

Die Eltern von Marion B. waren Alkoholiker. Der Vater hat sich umgebracht, die Mutter starb an Krebs, zwei Schwestern sind ebenfalls tot. Mit sechs Jahren kam die kleine Marion ins Heim, wo sie Bekanntschaft mit weichen Drogen machte. Richter Wulff wunderte sich, dass so etwas in Jugendheimen geduldet wird. Aus langjähriger Berufserfahrung wisse er, dass dies oft der Beginn eine kriminellen Drogenkarierre sei. So auch bei Marion B.: Seit sie 18 war, nahm sie Heroin und Koks.

Seit bald zwei Jahren lebt die geschiedene 39-Jährige jetzt mit ihrer Tochter in einem Therapiezentrum in Hannover und ist seitdem clean. Auch mit Ladendiebstählen, wie in der Zeit vor dem Entzug, ist sie nicht mehr auffällig geworden. Ein bemerkenswerter Erfolg der ruhigen, blonden Frau, waren sich Staatsanwältin Claudia Helberg und Verteidiger Peter Bliemeister einig. Der Richter fragte Marion B. nach ihren Zukunftsplänen. Sie antwortete, dass sie Altenpflegerin werden wolle. Komisch, fand Richter Wulf, alle ehemaligen Drogenabhängigen wollten Altenpfleger werden. Warum nur? Um zu sehen, wie alt man werden kann, wenn man keine Drogen nimmt? So hatte die Angeklagte darüber noch nicht nachgedacht.

Im Laufe der Verhandlung konnte Marion B. glaubhaft machen, dass sie niemals mit der Waffe abgedrückt hätte – Sie wusste in ihrem benebelten Zustand nicht ein mal, ob die Pistole überhaupt geladen war. Auch die wohlwollende Staatsanwältin ging in ihrem Plädoyer davon aus, dass sich Marion B. bei dem Überfall in einer Ausnahmesituation befunden habe. Eindreiviertel Jahre auf Bewährung lautete das Urteil, das die Angeklagte annahm. Das Gericht hatte ihr verminderte Schuldfähigkeit aufgrund der Entzugserscheinungen zugestanden. Glück für Marion B.: Die Waffe war nicht geladen. Sonst, ließ der Richter keine Zweifel, wäre sie sicher ins Gefängnis gekommen. Tom Brägelmann