: Bächleintourismus in Alt-Pichelsdorf
Mitleid erregend: Die Geschichte eines Symbols für das langsam in der Sanduhr des Todes verrinnende Schicksal
Nicht viel los ist abends in den Straßen von Alt-Pichelsdorf. Ich denke, dass ich da gefahrlos irgendwo mein Bächlein machen kann. Ein Mann kommt mir entgegen – er macht ein verkniffenes Gesicht. Er grüßt mich nicht, ich grüße ihn nicht – warum auch, wir kennen uns nicht und wollen uns auch nicht kennen lernen. Wir wollen nur unser Bächlein machen; bestimmt will er auch nur sein Bächlein machen – so stramm ist sein Schritt, als er mich passiert.
Da hinten, der Sandhaufen vor Multipolster – der wäre ideal, da bin ich unbeobachtet. Doch was ist das – ein Hund? Der Hund jault laut und kläglich. Immer wieder jault der Hund. Dann macht er sein Bächlein. Dann jault er wieder, der arme Wurm. Er ist allein. Jemand hat ihn neben dem Sandhaufen angebunden, wahrscheinlich schon vor Tagen – so heiser ist der Hund.
Der Haufen steht als Symbol für das langsam in der Sanduhr des Todes verrinnende Schicksal unseres kleinen Pissers oder vielleicht auch für eine Baustelle. Er tut mir leid, der arme Hund, aber ich kann nichts machen: Ich muss jetzt zuerst an mein Bächlein denken – das ist schon ganz schön dringend. Danach hält mich hier nichts mehr. Eigentlich kann ich Hunde auch gar nicht so besonders leiden. Der Hund winselt jetzt. Ich stelle mich so, dass er mich nicht richtig sehen kann, hinter einen Baum und mache mein Bächlein. So, fertig – nun kann ich wieder klar denken: Wer hat wohl den Hund dort angebunden? Bestimmt Leute, die mit dem Auto hierher gefahren sind, um ihr Bächlein zu machen. Dann hat auch der Hund sein Bächlein gemacht und sie haben gedacht, dass er hier eventuell gar nicht so schlecht aufgehoben ist: Der Bächleintourismus nach Alt-Pichelsdorf treibt manchmal merkwürdige Blüten.
Immerhin aber handelt es sich um so einen Mischlingspuschelhund. Sicher ein Familienhund. Man hat ihn im Grunde ja auch sehr rücksichtsvoll untergebracht: Auf der einen Seite der Sandhaufen, der für ein paar Stunden am Tag Schutz vor der heißen Augustsonne bietet und wo er schön im Sand spielen kann. Daneben ein Bagger zur Gesellschaft und dahinter die Schaufenster von Multipolster: Da hat er wenigstens was Weiches zum Gucken, wird sich die Familie von dem Familienhund gedacht haben. Jetzt sind Sommerferien: Bestimmt haben sie ihn erst mal hier angebunden, letzte Bächleinpause vor der Autobahn gemacht, und überlegt: Was machen wir denn im Urlaub mit unserem Mischlingspuschelhund, der immer so schön sein Bächlein in das Wohnzimmer macht? Und überlegen und überlegen und fahren dann irgendwie doch weiter und vergessen ihn dummerweise – kann schon mal vorkommen.
Der Hund ist traurig – er wird es nicht mehr lange machen. Da wäre ich sicher traurig – ich glaube, alle wären das. Den ganzen Tag in der Hitze und nichts zu trinken als das eigene Bächlein – nicht auszudenken! Betrübt mache ich mich davon und unterwegs begegnet mir der verkniffene Mann von vorhin. Entspannt klatschen wir uns ab, bevor ich zu meinem Auto weitergehe und er zu seinem Hund.
ULI HANNEMANN
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