Einsam im August

Wenn alle übers Sommerloch stöhnen, laufen beim Berliner Krisendienst die Telefone heiß. Nicht nur Alleingebliebene, auch Touristen suchen Hilfe

von YVONNE GLOBERT

Pankow liegt unter einer Dunstglocke. Nur langsam gibt der Asphalt die Hitze frei, die sich den ganzen Tag gestaut hat. Es ist kurz nach 21 Uhr. „Aber um zehn bist du zu Hause“, raunzt eine Mutter in einer der Betonbauwohnungen, die die Mühlenstraße säumen, ihr Kind an. Die Stimmung ist gereizt. An schwülen Abenden wie diesen wittert man überall Konfliktpotenzial. Auch dort, wo es nicht unbedingt eines gibt.

Inmitten der schmuddeligen Mietshäuser, den Sammelsurien familiärer Nähe und persönlicher Einsamkeit, strahlt ein Deckenfluter durch eine große Glastür und gibt den Blick frei auf eine gesunde Yuccapalme und eine gemütliche Ikea-Sitzgruppe in Königsblau. Keine butterweichen Sessel zum Einkuscheln. Der Berliner Krisendienst, der hier in Pankow eines seiner Quartiere hat, will Halt geben.

Eine junge Frau kommt vorbei: Sie ist ganz aufgelöst und heult los. Zu Hause habe sie ihren Freund mit einer anderen im Bett erwischt. Mein Gott, das kann doch nicht sein. Wir wohnen doch zusammen. Wieso habe ich nicht mitgekriegt, das da was läuft? Und jetzt hab ich auch noch Urlaub. Lieber gehe ich noch weiter arbeiten. Da komme ich wenigstens auf andere Gedanken. Sie redet und redet. Und die Beraterin hört einfach nur zu.

Nebenan klingelt das Telefon. Eine ältere Kollegin nimmt ab. Am anderen Ende ist es still. „Sagen Sie mir, wie ich Ihnen helfen kann“, setzt sie langsam an, als es am anderen Ende still bleibt. Ein Mann spricht. „Sie können doch auch herkommen . . . Sie trauen sich nicht? Aber Sie trauen sich doch auch anzurufen.“ Ihr Ton wird bestimmt. „Möchten Sie morgen mal kommen . . . Hallo? . . . Sind Sie noch da?“ Aufgelegt. Der Anrufer hat sich nicht zum ersten Mal gemeldet. Aber seine Geschichte ändert sich immer: Mal ist er Missbraucher, mal Missbrauchter. So geht das fast täglich, ein Dreivierteljahr. Anrufer wie er spalten das Team. Eine eindeutige Diagnose fällt schwer.

Im Büro wird es unruhig. Eine Kollegin kramt Jacke und Autoschlüssel zusammen. In einer Hand hält sie einen Koffer. Medikamente sind darin, Einweisungspapiere, ein Stadtplan. Sie ruft noch schnell eine Ärztin an und saust los. Am Einsatzort dämmert eine Frau vor sich hin. Sie hat gerade eine Ladung Tabletten geschluckt. Der Arzt hatte ihr die stärksten verschrieben. Jetzt wirken sie. Und jetzt ist es auch egal, dass ihr Mann sie sitzen gelassen hat und dass ihre Tochter sich einen Dreck um sie kümmert. Und die neue Wohnung. In der hat sie sich sowieso fremd gefühlt. Aber der Hund, was wird nur aus dem Hund?

Berlin steckt in der Krise. Jeden Tag und jede Nacht. In jedem Stadtteil leben sie, die Einsamen, die Verlassenen, jene auch, die lieber anrufen, weil sie menschliche Nähe nicht ertragen können. Dabei ist es oft das, wonach sie sich am meisten sehnen. Ehefrauen, die von ihren Männern windelweich geprügelt wurden, stehen mit einem blauen Auge und der Frage vor der Tür, ob sie zurückgehen sollen, zurück zum Schläger. Andere haben den sozialen Abstieg hinter sich – sind arbeitslos, obdachlos, würdelos.

Studenten melden sich, die unter ersten Psychosen leiden. Es gibt auch klassische Ost-West-Problematik: Hier ruft an, wer zu DDR-Zeiten noch einen Job hatte, der Stasi-Spitzel, den das schlechte Gewissen plagt, und der Bespitzelte, dem das System einen Strich durch die Lebensplanung gemacht hat.

Und besonders viele melden sich jetzt, an einem Abend im August. 3.232 Anrufe gab es im vergangenen Jahr in dem Spätsommermonat. Weit mehr als im November, dem man gern deprimierende Wirkung nachsagt. Und mehr auch als zur Weihnachtszeit, in der viele das Fest der Liebe allein feiern müssen. Aber auf Weihnachten kann man sich einstellen, nach drei Tagen ist es wieder vorbei mit der heimeligen Feierlichkeit.

Die Einsamkeit im August trifft unerwartet: Plötzlich scheint die Welt nur so voll zu sein von Ausgelassenen, die mit Freunden an den Hackeschen Höfen Caipirinha schlürfen oder mit der Liebsten am Müggelsee flanieren. Freunde und Familie packen die Koffer und brechen als potenzielle Krisenhelfer weg. Wer dazu noch in einer Therapie steckt, muss geduldig ausharren, bis der Therapeut wieder von den Kanaren heimgekehrt ist. Mit einem Schnupfen oder gebrochenen Fuß kann man zu einem vertretenden Fachmann gehen. Mit Wahnvorstellungen eher nicht. Mancher Anrufer macht selbst gerade Urlaub. Beim Krisendienst melden sich auch Touristen.

Standortwechsel. Krisendienstzentrale in Berlin-Tiergarten, Haus K am Krankenhaus Moabit: Es ist Sonntag früh. Jetzt ist am meisten los. Eine Frau ruft an. Ein Angehöriger dreht gerade durch. Seine Lebensgefährtin ist ein Pflegefall. Er kümmert sich allein um sie. Seit zehn Tagen hat er nicht mehr geschlafen und ist völlig überfordert. Ein Mitarbeiter macht sich startklar. Er zögert noch einen Moment, ist sich nicht sicher, ob er die Polizei verständigen oder sich erst ein genaues Bild von der Lage vor Ort machen soll. „Ambulant geht vor stationär“, sagt Jürgen Wörner vom Krisendienst Nord, der in der Zentrale gerade Wochenenddienst hat. „Erst wenn alle Mittel erschöpft sind, soll es durch die Polizei zu einer Zwangseinweisung kommen.“ Noch hoffen die Mitarbeiter, dass sich der Mann freiwillig in eine Klinik begibt. „Es geht immer darum, kurzfristig eine Lösung zu finden. Das kann für die nächsten Tage oder nur die nächsten Stunden sein“, sagt Ulrike Haase, Mitarbeiterin in Pankow. Eine kurzfristige Lösung kann sein, einem Anrufer einfach eine Zeitlang zuzuhören. In einem anderen Fall geht es um eine Adresse oder einfach nur um einen Denkanstoß.

Um Kosten einzusparen, wurden seit 1996 in ganz Berlin mehr als 2.000 Betten in psychiatrischen Einrichtungen abgebaut. Der durchaus positive Nebeneffekt: Die Enthospitalisierung beflügelte die Fantasie. Geld floss nicht nur in den Berlin-weiten Krisendienst, der in seiner Form der größte in Europa ist. Betroffene, die lange stationär untergebracht waren, können jetzt eher in Tageskliniken, Wohnheime oder WGs wechseln.

Auch der Freitod ist eine Lösung. Die letzte. „Ich kann akzeptieren, dass sich jemand das Leben nimmt. Aber nur, wenn es keine Alternativen mehr gibt“, sagt Claus-Peter Darm. Auch er arbeitet beim Krisendienst Nord. Nicht immer haben die Berater die Chance, sie aufzuzeigen: Da hängt die Kollegin ohnmächtig am Telefon. Sie kann nur noch vernehmen, wie der Anruferin die Stimme wegsackt. Dann ist die Leitung tot. Und der zurückgelassenen Beraterin schwirren Bilder durch den Kopf: irgendwo im großen B von einer Frau auf dem Küchenboden.

Manchmal finden sich die Berater selbst in krassen Situationen wieder. Ein junger Mann ruft an. Seine Freundin will aus dem Fenster springen. Er weiß nicht, was er tun soll. Er hat einfach nur Angst. Minuten später findet sich der Berater in einer Wohnung wieder, für die er als Privatmann nur Abscheu übrig hätte. An den Wänden hängen Hakenkreuze, überall. Hier wohnt ein Neonazi. Heute ist er einfach nur ein Krisenfall.

Gerade in dem Neuen, der unvorhersehbaren Situation, liegt für die Krisendienst-Mitarbeiter der Reiz. „Das hat mit Ehrgeiz und Neugierde zu tun“, sagt Ulrike Haase. „Es geht immer um die Frage: Wie kann ich jemanden erreichen, und zwar so schnell wie möglich.“ Nicht jeder kann den Job machen. Die meisten Mitarbeiter haben Psychologie studiert, Sozialarbeit oder ähnliches. Viele haben sich fortgebildet im Bereich Krisenintervention. Einmal in der Woche tauschen sie sich aus und verarbeiten schwere Fälle mit Hilfe eines Supervisors.

Vor allem gilt es, professionelle Distanz zu wahren. „Man darf nicht zu betroffen sein“, meint etwa Knuth Köhler, ebenfalls Mitarbeiter in der Region Nord. Manche müssen das erst lernen. Ulrike Haase spukten die ersten Anrufer tagelang im Kopf herum. Jetzt braucht sie nach der Schicht ein, zwei Stunden, um abzuschalten. In ihrer Freizeit schreibt sie Kurzgeschichten. Manche Anrufer fließen in ihre Figuren ein. Ihre Kollegin ist nach der Spätschicht um 24 Uhr so aufgekratzt, dass die Konzentration noch für ein Buch reicht. „Die fünfte Frau“ von Mankell liegt auf der königsblauen Couch. Ein Krimi. Es geht – natürlich –um Gewalt. Vor allem um den Missbrauch von Frauen.

Auch darin lässt sich ein Bogen zum Krisendienst schlagen. Die Anrufer lassen sich nicht so leicht aus dem Gedächtnis radieren und in einen der Aktenordner heften, in denen alle Fälle beim Krisendienst dokumentiert werden. „Wenn mich nichts mehr beschäftigt,“ sagt Ulrike Haase, „muss ich aufhören. Dann bin ich in diesem Job falsch.“