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Mensch als welke Tulpe

Diametral entgegengesetzte Weltsichten: 100 „Meisterzeichnungen“ von Dürer bis Mantegna in der Kunsthalle  ■ Von Petra Schellen

Zeichnungen sind Selbstgespräche. Ins Unreine formulierte Gedanken, die ihren eigenen Rhythmus haben. Entwürfe, in denen Disparates noch nebeneinander steht und in denen sich der Künstler manchmal verfängt im „was wäre, wenn“. Und genau dies sind die Prozesse, die auch die Ausstellung Von Dürer bis Goya – 100 Meisterzeichnungen der Hamburger Kunsthalle offenbart. Italienische, niederländische, deutsche, französische und spanische Zeichnungen haben die Organisatoren aus dem Kupferstichkabinett zusammengetragen, darunter Werke von Dürer, Elsheimer, Rembrandt, Piranesi und de Goya.

Eine scharfe Licht-Schatten-Kante modelliert zum Beispiel Andrea Mantgena in dem Blatt Maria mit dem Jesusknaben. Die beleuchteten Partien treten fast surreal klar hervor, als verselbständigten sich die Mantelfalten zu einer eigenen Schrift. Mit extremen Kontrasten arbeitet auch Giovanni Battista Piranesi in seinem Karneval-Blatt, wo das Sonnenlicht gleißend auf karg skizzierten Umhängen tanzt. Und von großer Dynamik ist Rembrandts Heiliger Hieronymus, der mit seinem Löwen auf einem Felsvorsprung sitzt. Unwirklich hell wirkt die im Hintergrund verschwimmende Stadt.

Was dem Bild Spannung verleiht? Vielleicht die Tatsache, dass der Betrachter mit dem Löwen auf die Stadt blickt. Überhaupt irritiert, dass der Löwe wichtiger scheint als das dem Betrachter zugewandte Hieronymus-Männchen am vorderen Bildrand. Aber womöglich liegt hierin der eigentliche Gehalt des Blattes: in der Tatsache, dass sowohl die Stadt als auch das nahe Ambiente ohne weiteres eingebildet sein könnten. Dass nur der Löwe – als Attribut selbst fiktives Element – diese Fata Morgana sieht und all dies bloße Vision des Einsiedlers sein könnnte.

In die Gewölbe – des Unterbewussten? – herabgestiegen ist Piranesi mit seinem berühmten Bild Römischer Kerker – einer Architekturstudie, die fast wie eine kirchliche Kanzelsituation wirkt, erweitert um etliche Rundbögen, die sich ständig zu vermehren scheinen. Menschen bevölkern allenfalls schattenweise die Konstruktion, die düster suggeriert, dass sich im Erdinneren keine Verdichtung an Material oder Erkenntnis, sondern bloß Myriaden von Gerüsten finden.

Haltlos wirkt auch die Eva von Hans Baldung Grien, die der Dürers ähnelt und ganz im Stil der Zeit gestaltet ist. Und doch trifft Baldung eine andere Aussage als sein Kollege. Denn er hat Eva nicht nur adamlos in die Welt gestellt, sondern auch ihr Eingesogenwerden durch die Schlange eindrucksvoll ins Bild gesetzt: In den fast muskulösen Zweig geht Evas manieristisch verlängerter Arm über. Und nahtlos wächst die Schlange aus dem Gehölz, als strahle das Böse direkt auf Evas Hand ab. Sogar ihre Haare werden wie magnetisch in Richtung des Baumes gezogen. Das Schwinden von Widerstandskraft und Willen deutet sich an auf dem Bild – und nur ein letzter Zweifel bleibt: Evas unsicherer Blick nach links – vielleicht in Richtung des nahenden Gottes. Oder ihres eigenen Gewissens? Eine Zerrissenheit, die so deutlich nur auf wenigen Sündenfall-Darstellungen zu sehen ist und die allein die Bewegung der Pupillen offenbart.

Mit biblischen und mythologischen Stoffen befasst sich ein Großteil der deutschen und italienischen Exponate. Vielfigurige, pathosgeladene Szenen finden sich oft unter den italienischen Blättern und ein großes Vergnügen am Licht- und Schatten-Spiel. In die Reihe seiner religiösen und mythologischen „Ahnen“ stellt sich hier der Mensch, sucht Glaubenzweifel und -hoffnung auszudrücken. Eine Weltsicht, die der vieler niederländischer Blätter diametral entgegensteht: Selten steht hier der Mensch im Mittelpunkt, oft nimmt er weniger als die Hälfte des Blattes ein. Detailreiche Realitäts-Abbilder sind diese Werke. Stilleben sind es, denen wie zufällig Menschen beigegeben wurden – genauso vergängliche Ingredients wie welke Tulpen oder Fliegen.

Ganz unaufdringlich finden dabei wichtige Neuerungen statt: Die ers-te gemalte Darstellung einer Landkarte findet sich etwa im Holländischen Innenraum von Willem Pietersz Buytewech, wo zwei Mädchen teilnahmslos handarbeiten. Und einer unter vielen ist der Mensch in Hendrick Avercamps Eisvergnügen und auf dem Sommer-Blatt von Pieter Bruegel d. Ä. Eingegliedert in einen Kosmos aus pragmatisch angeordneten Gegenständen ist der Mensch auf vielen niederländischen Zeichnungen. Er lebt in einem nicht durch Transzendenz zu überhöhenden Alltagskorsett, an dem er wenig ändern kann. Und doch ist diese akribisch abgebildete Welt nicht ohne Geheimnis: Denn einerseits könnte schon die Anordnung der Dinge subtilen Regeln gehorchen. Andererseits scheinen z. B. die Blätter der Bäume von Hendrick Goltzius einen wie durch Magnetkraft geordneten Rhythmus zu haben, dessen Struktur nur noch entschlüsselt werden muss.

Bis 30. September, Hamburger Kunsthalle. Geöffnet Di-So 10-18, Do 10-21 Uhr

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