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Gelobt sei Bolles riesiger Fuhrpark

Die Ausstellung „Berlin – Ein riesiger Bauch“ in der Domäne Dahlem zeigt, wie spannend die Geschichte der Versorgung einer Großstadt sein kann: Die Eröffnung der Zentralmarkthalle am Alexanderplatz im Jahre 1886 wird zur zivilisatorischen Leistung

von PHILIPP GESSLER

Armut macht krank. Auf diesen Zusammenhang haben vor knapp zwei Jahren Weddinger Kinderärzte in einem eigens publizierten „Appell“ aufmerksam gemacht. Sie dokumentierten eine extreme Steigerung „sozial bedingter Erkrankungen“ in ihrem Bezirk. Die Ursachen seien zunehmende Armut und schlechte Wohnbedingungen – ein neues Phänomen?

Keineswegs, wie die ab heute geöffnete Ausstellung „Berlin – ein riesiger Bauch. Hungerkrisen und Versorgung einer Metropole“ zeigt. In der Domäne Dahlem, einem Gutshof, der früher dem preußischen Staat, später Westberlin gehörte, wird dies vor allem an einer Vitrine der Schau deutlich: Zu sehen sind darin Gebeine aus dem 19. Jahrhundert: Eine Schädeldecke, ein Unterkiefer und ein Oberschenkel sind ausgestellt. Die bräunliche Schädeldecke eines mit etwa 13 Jahren verstorbenen Jungen weist auf ihrer Innenseite weiße Flecken auf: Zeichen von Infektionen aufgrund von Unter- und Fehlernährung. Im Unterkiefer stecken Zähne, die horizontale Rillen haben – auch dies Belege für das gleiche Phänomen. Ein Oberschenkel schließlich ist seltsam gekrümmt und wirkt ein wenig porös: Indizien einer Rachitiserkrankung. Sie beruht auf Vitamin-D-Mangel, der bei Fehlernährung und Lichtmangel auftritt. Das Berlin der Mietskasernen und Fabrikhöllen hat seine Armen krank gemacht.

Aber was heißt schon arm, wenn mehr als drei Viertel der Erwachsenen einer Stadt unter Armut leiden? Zwischen 1800 und 1860 zählten 80 Prozent der Berliner Erwerbstätigen zu den Unterschichten – das Einkommen eines Elternteils reichte nicht zur Ernährung der Familie. Die Armut der städtischen Unterschichten wird durch eine eindrucksvolle Inszenierung von Hörbeispielen aus Bettina von Arnims Werk „Dies Buch gehört dem König“ deutlich gemacht. Die Adlige hat darin in nüchterner Sprache ihre Besuche bei den Armen Berlins festgehalten. Sie schildert das Schicksal und die Not ihrer Gesprächspartner, deren Namen und genaue Adresse samt Stubennummer sie akribisch notiert: In 400 Gemächern wohnten 2.500 Menschen, schreibt sie – und was sie schildert, ist ergreifender als jede preisgekrönte Sozialreportage unserer Tage.

In Mietskasernen lebten bis zu 15 Personen in 21 Quadratmeter großen Wohnungen. Am Kottbusser Damm gab es eine Barackensiedlung für obdachlose Familien. Wer einen Stich aus dem Jahre 1872 anschaut, der dies für die Nachwelt festgehalten hat, sieht kaum Unterschiede zu heutigen Bildern aus den Slums in den Millionenstädten des Südens der Welt. Kalkutta lag in Kreuzberg. Und wie die Metropolen der „Dritten Welt“ führte auch in Berlin die Zuwanderung vom Land in der Stadt zu einem Bevölkerungskollaps, der auf deutschem Boden ohne Beispiel war: Während um 1800 etwa 170.000 Menschen an der Spree wohnten, waren es um 1850 bereits rund 400.000 und um 1880 gar 1,1 Millionen. Zum Vergleich: München hatte Mitte des Jahrhunderts nur 100.000, Frankfurt am Main 60.000 Einwohner.

Wie diese Masse an Menschen ernähren? Aus dem Fläming kam das Fleisch, aus dem „Milchgürtel“ im Havelland die Milch – und zwar in einer erstaunlichen Menge. Pro Jahr waren dort aus den Eutern der Kühe bis zu 4.000 Liter zu melken (im Schnitt gaben die Kühe andernorts nur 1.200 Liter, wie die Ausstellung erklärt). Dennoch hätte dieses landwirtschaftlich reiche Umland zur Ernährung der Millionenmetropole nicht gereicht, wenn sich nicht gleichzeitig die Kartoffel als sättigende Grundnahrungsspeise durchgesetzt hätte. Die Knolle wuchs häufig und zuverlässig auf dem sandigen Boden der Mark. „Es ist der Kartoffel zu verdanken, dass Bedürftige, die zum Teil zu allen Mahlzeiten ausschließlich Kartoffeln verspeisten, zwar immer noch hungerten, aber nicht verhungern mussten“, erläutert Peter Lummel, der wissenschaftliche Leiter der Domäne.

Doch wehe, wenn eine Knollenseuche durchs Land zog! Als Europa Mitte des 19. Jahrhunderts von einer Kartoffelfäule befallen wurde, verhungerte in Irland etwa eine Million Menschen. Weil die Berliner Händler ihre Preise für die Kartoffel wegen der Seuche auf das Sechsfache steigerten, kam es zu einer Revolte: An die 2.000 Marktstände und Läden wurden demoliert – es ging ums Überleben.

Die Not des Alltags versuchten viele Bewohner Berlins durch Suff zu verdrängen: Um 1840 lag die Pro-Kopf-Rate an Schnaps bei jährlich 52 Litern – im Rheinland waren es nur 13 Liter. Im Jahr 1844 kam auf je 109 Einwohner eine Schnapsdestille. Die preußische Metropole war die Schnaps-Hauptstadt schlechthin – auch der Kartoffelboom half da. „Ist es Euer fester Wille“, so fragt auf einer alten Karikatur ein Schnapsbruder mit besonders roter Nase seine zwei Saufkumpanen, die ihre Rechten wie ein Traupaar zum Schwure umschlungen haben, während sie in der anderen Hand riesige Schnapsflaschen halten, „alle irdischen Güter von Euch zu werfen und mir zu folgen, so schwöret!“ „Wir schwören“, sagen sie – und das erste Schmunzeln erstarrt schnell im Gesicht des Betrachters.

Es gehört zu den Stärken der Ausstellung in den sechs oberen Räumen des Gutshauses, dass sie nicht auf billige Effekte setzt, sondern auf ihre klug ausgewählten Exponate vertraut. So wie das Elend der proletarischen Masse deutlich wird, kann sie ebenso den immer exquisiteren Geschmack, ja die Luxusversorgung einer langsam breiter werdenden Mittel- und Oberschicht in der Stadt deutlich machen: Ein wunderbares Frühstücksservice des Sängers Carl Adam Bader (1789–1870) zeigt auch dies. Die Meister der Königlichen Porzellan-Manufaktur haben auf Tellern und Tassen in Goldschrift 128 Opern und 140 Partien geschrieben. Eine Lithografie aus dem Jahr 1842 zeigt die Jeunesse dorée der Hauptstadt beim Herumlümmeln im Café Kranzler, das 1825 eröffnet wurde. „Fashionable Eisesser“, heißt das Bild.

Der Ausbau der Versorgungswege in die Stadt, das Entstehen von Brotfabriken, riesigen Schlachthöfen und immensen Markthallen im Laufe der Jahrzehnte, der Boom von Lebensmittelläden an jeder Ecke – in der Ausstellung erscheint dies alles als zivilisatorische Leistung. Denn anders war die Versorgung von Millionen mit gesunden Nahrungsmitteln schlicht nicht möglich. Um 1820 war der Gendarmenmarkt der größte Wochenmarkt Europas mit wöchentlich über 1.000 Ständen. In ganz Berlin gab es 1880 genau 20 Wochenmärkte mit 9.000 Ständen. Als die Zentralmarkthalle am Alexanderplatz 1886 eröffnet wurde, musste der Gendarmenmarkt schließen. Weniger pittoresk war der Einkauf in Mitte dadurch – aber hygienischer. Ein Hoch auch auf Karl Bolle, dessen riesiger Fuhrpark mit Kühlwagen endlich den Verkauf von Milch ermöglichte, die nicht auf dem Weg in die Stadt sauer geworden war! Wer durch die Ausstellung geht, kann sich eines Gefühls des Respekts für die Lebensmittelgroßhändler der „guten“ alten Zeit nicht erwehren.

So ist den Ausstellungsmachern auf 250 Quadratmetern im Rahmen des Preußenjahres eine lehrreiche Schau gelungen, die nicht unnötig protzig daherkommt, sondern hält, was ihr Titel verspricht. Ernährung, so ist zu lernen, war und bleibt auch eine soziale Frage – „man ist, was man isst“, bringt es ein wohl bekannter Spruch in einer Ton-Bild-Show am Ende auf den Punkt. Und eine rechte Freude ist es dann, die gut ernährten Kinder zu sehen, die auf dem Gutshof in der Sonne spielen.

„Berlin – ein riesiger Bauch“: Domäne Dahlem, Königin-Luise-Straße 49, bis 30. 12., Mi. bis Mo. 10 bis 18 Uhr, Eintritt 4 DM (dort auch die Wanderausstellung „Revolution von oben. Die preußischen Agrarreformen“)

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