: Ein chinesischer Traum
Sauerstoffflaschen soll es für die Zugreisenden geben und unter den Gleisen Kühlrohre. Sogar Beton reagiert empfindlich auf 4.000 Metern Höhe
aus Golmud und Xidatan JUTTA LIETSCH
Als Wang Jinwei zum ersten Mal vom großen Plan der Regierung hörte, wusste er sofort: „Da will ich mitmachen!“ Die höchste Eisenbahn der Welt zu bauen, vom rauhen Hochland Qinghais bis zum Himalaya: Diese Vorstellung war für den jungen Ingenieur unwiderstehlich. „Das wird ein großes Abenteuer“, sagte sich der 29-Jährige, der aus der zentralchinesischen Stadt Taiyuan stammt.
Seinen Traum kann er sich nun erfüllen. Seit Chinas Premierminister Zhu Rongji am 1. Juli den offiziellen Startschuss für den Bau der Qinghai-Tibet-Strecke gab, ist der Fachmann für Betonkonstruktionen dabei. Im orangeroten Overall steht Wang an seinem neuen Arbeitsplatz: einer Ansammlung schnell errichteter, flacher Ziegelbauten mit schlichten Gemeinschaftsunterkünften, mit Büros und einer Kantine, daneben ein Platz voller Baumaschinen, die noch neu glänzen. Im Rücken des „12. Baubüros der Qinghai-Lhasa-Eisenbahn“ steigt ein Berghang steil auf – kahl, braun und harsch wie die ganze Landschaft hier im Qaidam-Becken, das an das mächtige Kunlun-Gebirge im tibetischen Osten grenzt.
Auf der zweispurigen Überlandstraße vor dem Tor des „12. Baubüros“ passieren in großen Abständen Reisebusse, Lastwagen und Militärkolonnen. Kein Baum, kein Strauch, kein Grashalm wächst auf dem harten Grund. An den Stellen, an denen sich das Wasser von den Bergen in die Tiefe gefressen hat, ist der Boden von Furchen durchzogen. Unter dem hohen Himmel, vor dem weiten Horizont, wirken die Fahrzeuge wie Miniaturen.
Hier, auf über 3000 Meter Höhe im Süden der Wüstenstadt Golmud, verläuft der erste Abschnitt der 1.200 Kilometer langen Eisenbahntrasse nach Lhasa, für die Wang in den nächsten Monaten Brückenpfeiler produzieren wird. Wang gehört zu den 5.100 Arbeitern und Technikern, die bereits eingetroffen sind.
In der Ferne sind die Gletscher des Kunlun-Gebirges mit seinen Sechstausender-Gipfeln zu sehen. „Für die Menschen! Schützt die Natur!“ fordern Tafeln mit großen Schriftzeichen am Straßenrand. Andere verkünden: „Die Eisenbahn ist die erste Priorität für die Entwicklung des Westens.“ Bislang ist die Straße von Golmud die einzige ganzjährig befahrbare Straße nach Lhasa: 90 Prozent aller Güter für Tibet werden über diese Route transportiert. Drei Tage brauchen die Fahrer, wenn die Piste nicht durch Erdrutsche oder Frostaufbrüche beschädigt ist. Wo früher nur Raststätten, Tankstellen und Armeeposten zu sehen waren, führt die Strecke jetzt alle paar Kilometer an Stationen von Bautrupps vorbei. Oft sind es nur kleine Gruppen akkurat aufgestellter grüner Militärzelte, neben denen Lastwagen, Bulldozer und Bagger parken.
Als Wang Jinwei sich bei der Qinghai-Tibet-Bahn bewarb, hoffte er nicht nur auf Abenteuer, sondern auch auf guten Lohn. Die Bezahlung soll, wie es heißt, mindestens doppelt so hoch ausfallen wie bei gewöhnlichen Bauprojekten, also nicht weniger als 4.000 Yuan (ca. 1.100 Mark) im Monat betragen. Sicher weiß das niemand, die Behörden haben es noch nicht geschafft, sich auf die Löhne zu einigen.
Was den jungen Ingenieur an der Qinghai-Lhasa-Bahn besonders reizte, war „die große Herausforderung an die Ingenieurskunst“. Schon vor fünfzig Jahren, als die chinesische Armee in Lhasa einmarschierte, hatte der Große Vorsitzende Mao Zedong davon geträumt, Tibet mit dem stählernen Band der Schienen an China zu binden. Doch die technischen Schwierigkeiten schienen damals unüberwindbar, die Kosten viel zu hoch.
Die Luft in den Höhenlagen über 4.000 Meter ist dünn, der Winter bitter kalt, der Wind schneidend. Deshalb stellen die zum Eisenbahnministerium gehörenden Baufirmen nur kerngesunde Bewerber unter 40 Jahren ein. Selbst die speziell geschulten Mediziner, die seit einigen Wochen in der neuen Poliklinik von Xidatan 130 Kilometer südlich von Golmud an der Straße nach Lhasa arbeiten, haben sich noch nicht ganz an die Höhe von 4.200 Metern gewöhnt: „Man kann sich nur langsam bewegen“, sagt der 30-jährige Laborant Sun Zhihao, „alles fällt einem schwer“.
Sun hat vorher im Krankenhaus der Eisenbahngesellschaft in Xining gearbeitet, der Hauptstadt von Qinghai. Nach Xidatan ist er gegangen, weil „wir hier viel mehr verdienen werden“. Noch ist wenig zu tun. Ab und zu muss Sun einem höhenkranken Arbeiter Blut abnehmen. An die Landschaft hat er sich gewöhnt, für den 6.700 Meter hohen Yuzhufeng-Berg, an dessen Fuß das Dorf Xidatan liegt, hat er keinen Blick mehr.
Nicht nur Menschen, auch Baumaterialien reagieren in diesen Höhenlagen empfindlich. Weil Beton langsamer trocknet und möglicherweise auch schneller bricht als im Tiefland, müssen Wang und seine Kollegen neue Herstellungsverfahren ausprobieren.
Dass die Bahn, wie die Politiker in Peking verkündet haben, ab Sommer 2007 rollen wird, mögen die Arbeiter vor Ort nicht bestätigen. Denn die technischen Probleme sind groß: Auf fast 1.000 von insgesamt 1.120 Kilometern führt die Strecke von Golmud nach Lhasa über Gelände, das 4.000 Meter über dem Meeresspiegel liegt – oder noch höher. An ihrem höchsten Punkt wird die Bahn sogar 5.072 Höhenmeter überwinden. Erdrutsche und Beben sind an der Tagesordnung. Wegen der großen Kälte und der eisigen Winde können die Arbeiter nur zwischen März und Oktober die einspurige Trasse verlegen.
An 29 Stationen werden die Züge aneinander vorbeirollen, acht zur gleichen Zeit können in jede Richtung unterwegs sein. Wegen der starken Steigungen müssen die Eisenbahner vor die Waggons gleich drei Diesellokomotiven des Typs „Ostwind 8“ koppeln.
Für die Passagiere wird die Reise nicht ohne Risiko sein. Auf jeder Fahrt sollen Mediziner sie mit Sauerstoffgeräten vor dem Höhenkollaps bewahren, berichtet der technische Leiter des Eisenbahnprojektes, Zhao Xiyu. Das Pekinger Eisenbahnministerium erwägt derzeit sogar, Waggons mit Druckausgleich einzusetzen.
Die größte Schwierigkeit besteht darin, dass die die Trasse auf etwa 550 Kilometern über Permafrost-Böden führt. Die rund ums Jahr gefrorene Erde ist gefährlich, denn in den Sommermonaten taut sie an der Oberfläche auf. Bevor hier Schienen gelegt werden können, müssen die Bautrupps wissen, wie sie den Grund dauerhaft härten, damit die Gleise nicht absacken. Zhao, der Projektleiter, sagt: „Wir experimentieren noch an sechs Stellen der Strecke.“ Es werde nach einer Methode gesucht, die Erde gleichmäßig zu vereisen. Zhao denkt dabei „an das Prinzip des Kühlschranks“. Kühlende Röhren könnten durch den Boden geführt werden. Vielleicht wird der Grund auch im Sommer abgedeckt, um ihn vor den Strahlen der Sonne zu schützen. Erfahrungen aus anderen Ländern seien nicht übertragbar: „Die sibirischen Eisenbahnen“, sagt Zhao, „fahren zwar auf Permafrost, aber nicht in großer Höhe. Die südamerikanischen Anden-Züge fahren in großer Höhe, aber nicht auf Permafrost.“
„Die Natur zu bewahren, gehört zu unseren wichtigsten Aufgaben“, versichert er. Denn wo die empfindliche Bergwelt zerstört wird, gefährden Erosion und Erdrutsche die Gleise. Und weil es an einigen Stellen „immer noch unterschiedliche Ansichten“ über Details der Konstruktion gibt, habe die Eisenbahnbehörde einzelne Teilabschnitte bislang nicht genehmigt. Was Zhao verschweigt: Die Entscheidung der ehrgeizigen Pekinger Politiker, mit dem Bau schon jetzt zu beginnen, hat die Techniker offenkundig überrollt.
Tibetische Oppositionelle verurteilen das Projekt aus einem anderen Grund: Sie fürchten, dass die Eisenbahn der Regierung nur dazu dient, die Region besser zu kontrollieren. Denn auf den Schienen werden nicht nur chinesische Waren leichter nach Lhasa gelangen, sondern auch Soldaten und chinesische Zuwanderer. Das Projekt sei deshalb ein „Desaster für das tibetische Volk, das gegen die kulturelle und politische Vernichtung kämpft“, erklärte die Exilregierung des Dalai-Lama im indischen Dharamsala.
Dem Ingenieur Wang aus dem fernen Taiyuan sind solche Gedanken fremd: „Für mich ist es ein großartiges Gefühl“, sagt er und lächelt stolz, „an einem ruhmreichen Projekt beteiligt zu sein, das einen wichtigen Platz in der Geschichte des Vaterlandes haben wird.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen