: Seelandschaft mit Zina
Vater war Experte: Über die Lektüre eines Sommers in Berlin. Eine Kurzgeschichte
von NILS STEINKRAUSS
Eine freundliche Fügung versetzte mich für einige Monate an den Wannsee. Der Sommer ist wankelmütig in diesem Jahr, aber er verzichtet auf größere Ausfälle. Die Saison ist geschaffen dafür, ihr zuzusehen, ein Buch zu lesen und daran zu glauben, es sei möglich, ein Leben zu führen, das einer Sommerkomödie gleicht.
Nach dem Abendessen nimmt jeder sich die Muße, die Stränge des Dialogs allein weiterzuspinnen. Der eine zieht sich mit seiner Lektüre zurück, ein anderer übernimmt den Abwasch, ohne von Gegenleistungen zu reden, und ich steige das steile Ufer hinunter, um dem Wasser zuzusehen. Es ist dabei, sich für die Nacht zu glätten.
Jeden Morgen so um neun kommt ein leichter Wind auf; stetig stärker werdend, legt er bald eine Unruhe auf den See, die den Tag über anhält. Vor Sonnenuntergang flaut er wieder ab, und nach einem langen Ausatmen gibt er schließlich Ruhe. Das Wasser bleibt danach noch eine Weile in Bewegung, bis es sich der wachsenden Stille angepasst hat. Das ist die beste Zeit des Tages. Kleine Wellen lecken am Ufer; man könnte das Gefühl haben, der See sei nicht echt, weil man einem derart großen Wesen keine so zarten Regungen zugetraut hätte. Das nahe Ufer gegenüber rückt etwas weiter zurück.
Während des Lesens von Charles Simmons’ „Salzwasser“ blätterte ich häufig zurück zu der Karte, die dem Text vorangestellt ist. Sie bildet eine reduzierte Welt ab. Simmons’ Roman spielt in den Sechzigerjahren an der Ostküste der USA. „Im Sommer 1963 verliebte ich mich und mein Vater ertrank.“ Bone Point ist eine kleine Sandinsel im Atlantik, wo die Eltern von Michael, dem jugendlichen Erzähler, ein Sommerhaus besitzen. Durch einen schmalen Isthmus mit dem Festland verbunden, öffnet sich hinter ihr eine geschützte Lagune, ein ideales Segelrevier. Michaels Eltern besitzen neben dem von ihnen bewohnten Haus noch ein weiteres auf der Insel, das sie an Feriengäste vermieten. In diesem Sommer wohnen dort Mutter und Tochter Mertz, beide verlockend schön und reizend exzentrisch. Die Männer auf der Insel geraten in Unruhe, und die Eifersucht der Frauen ist berechtigt. Sie ändert aber nichts an dem Unglück, das jeder als Schuld aus diesem Sommer hinüberrettet: Man kann erwachsen werden, und man kann sich wünschen, noch eine Weile länger Kind gewesen sein zu dürfen.
„Sie wollte eine gute Photographin werden“, heißt es über Zina, die Tochter, „nicht berühmt, einfach gut“. Sie zögert, sich zwischen Farbe und Schwarzweiß zu entscheiden. Beides bestimmt über eine Sicht auf die Welt. Farbe, meint sie, habe es zu früh zu technischer Perfektion gebracht, und fährt fort: „Womöglich wird Farbe nie etwas taugen, das liegt vielleicht daran, daß sie zu real ist. Gute Aufnahmen sind aber nicht real, sie sind Bilder dessen, was man für real hält.“
Um diese Zeit haben die Sportsegler und Ruderer den See längst geräumt. Ein Schwarm Optimisten, der noch vor einer Stunde vor dem Hafen kreiste, ist eingelaufen, und die aufgeregten Kinder plappern weit schallend über den Abenteuertörn, den sie heute unternommen haben. Die Schicht wechselt gleitend, und die ersten Kähne sind auf den See hinausgerudert und vor Anker gegangen. Gegen das niedrige Licht sieht man die Silhouetten behäbiger Männer ihre Leinen auswerfen. Dann gehen die ersten Lichter an, mit denen sie neugierige Fische anlocken, als gäbe es hier Beute zu machen wie etwa Kalamare, denen ein Licht in der Nacht attraktiver erscheint, als gleich am Tag aktiv zu sein. Dann ist auch diese Vorstellung nicht mehr real, und ich verdränge den Gedanken, dass die Nacht so gesehen dem Versuch gleicht, willentlich hinter den lange geltenden farbigen Standards zurückzubleiben. Es gibt für den Menschen kein natürliches Habitat, das der Umgebung auf einer Schwarzweißfotografie gleicht.
Der folgende Morgen war vergiftet. Der See leuchtete synthetisch grün in der Sonne, und der Wind legte verschlungene Pfade in den Algenteppich, der das Wasser ölig glatt wirken ließ. Ein Motorboot raste vorüber; der Wasserskifahrer in seinem Schlepptau warf bei seinen Kurven Gischt auf, die nicht weiß, sondern knallgrün im Gegenlicht schimmerte. Nach gut einer Stunde wechselte die Farbe wieder ins Natürliche, weil der stärkere Wind den Bewuchs in eine andere Ecke des Sees geweht hatte.
Michael liebt Zina vom ersten Anblick. Zina spielt mit ihm, meint aber Michaels Vater. Sie fällt hier keine Entscheidung, sondern weiß, dass aus dieser Vorstellung niemals ein bleibender Zustand wird. Darum kann sie nicht leiden, sondern nur akzeptieren. Anders als Michael, der den ersten Verrat in seinem Leben erfährt. Von Natur aus Konkurrenten, wie es Vater und Sohn sind, kämpfen sie in diesem Fall nicht um die Gunst der Mutter. Michael verlangt es danach, wie sein Vater zu sein, während er am Ende feststellen muss, viel eher seiner Mutter zu gleichen. So ringt jeder mit sich selbst, und die erste Liebe ist im Nachhinein die Entdeckung gewesen, dass man beginnt, sich selbst wahrzunehmen – womöglich als zu real.
Der Sommer erreicht seinen Höhepunkt und überschreitet ihn. Im Rückblick verschwimmen die Unterschiede zwischen den Tagen. Dass die Stadt von hier aus eine ferne Erinnerung ist, liegt weniger an der tatsächlichen Distanz, sondern ist wie im Roman auch einem visuellen Unterschied geschuldet. Je zarter die Regungen, denen die Sinne ausgesetzt sind, desto eher sind sie bereit, wirkliche Unterschiede zu akzeptieren. Die Hektik der Stadt ist zu real, um in wechselnde Zustände zu zerfallen.
In diesem Sommer und dem gelesenen erteilt die Saison eine Lektion: „Vater war eben Experte. Ich fragte mich, ob ich eines Tages auch so gut mit Frauen würde umgehen können“, fragt Michael sich nach der Hälfte der Geschichte. Am Ende gesteht er: „Warum ich mich immer noch fühle wie ein Kind, weiß ich nicht“, während der Leser ahnt, dass er sich zu streng an Zinas Ratschläge gehalten hat. Sein Vater aber wollte nichts wissen von guten Aufnahmen. Er vertraute allein auf das lohnende Motiv.
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