: So wundersam weh, ach weh
Wie das Schreiben eines Textes den Schmerz zur Gestalt- und Taktikänderung drängt
„Ich gebe meinen Schmerz nicht her“, soll der Dichter Adalbert Stifter irgendwo und an entscheidender Stelle geäußert haben; in offenbarem Verbund mit der christkatholischen Religion, die da wesentlich auf das Kreuz und den Schmerzensmann gegründet ist und deshalb auch wegen ihrer gar zu lustfeindlichen Tendenz so manchem gar nicht gefällt – Nietzsche voran, der aber davon auch nicht lustiger wurde, sondern zur Strafe für seine Kritik sein Leben lang ganz besonders mit Schmerz und einem Denken vorwiegend in Schmerzkategorien bestraft wurde.
Wie auch immer, ich jedenfalls würde meinen Schmerz eher schon gern hergeben. Hätte ihn auch schon mal beinahe losgebracht, hätte es beinahe geschafft, ihn trickreich abzuwimmeln – via Literatur und Komik nämlich, mittels einer gewissen vis comica gewissermaßen –, aber jetzt hat er, der Schmerz, mir doch wieder den Meister gezeigt – aber ich muss hier wohl etwas weiter ausholen:
Vor knapp 15 Jahren war’s, da begann mich ein diffuser und neuartiger und nicht leicht lokalisierbarer, aber sehr zäher Schmerz zu quälen, mal mehr am Kopf, mal mehr am Wirbelsäulenende, in der Steißbeingegend – ein Schmerz, der sich dann langsam, aber sicher mehr in Arm und Schultern niederließ, und den die zugezogenen Fachärzte dankenswerterweise mit allerlei komplett heterogenen Diagnosen quittierten. Immerhin zwei schälten sich als plausiblere heraus: Entweder handelte es sich dabei um ein so genanntes myotendinitisches Schmerzsyndrom (Muskelfaserspannung, eine Art milderes Rheuma); oder aber, ganz au contraire, um eine scharfe Variante des prinzipiell geläufigen Hals-Wirbel-Syndroms (HWS), ausstrahlend von einer degenerativen Veränderung an der Bandscheibe des dritten beziehungsweise fünften Halswirbels.
Heute neigt meine ärztliche sowie krankengymnastische Beraterschaft mehr der zweiten These zu – gleichviel, wiederum vor etwa fünf Jahren war es wohl, da flog mir von weiß Gott woher die Idee zu, aus meiner nun schon bejahrten Pein wenigstens eine schöne, halb lustige, halb ihrerseits schmerzensreiche Kurzgeschichte zu basteln – mit der Hintergrundstrahlungsidee nämlich: die alte und noch immer ja nicht vollkommen vergessene Glaubenswahrheit zu überprüfen, dass von der Beschäftigung mit Kunst heilsame Wirkung ausgehe; dass – etwa im Sinne Freuds – aus der Schmerz- wie aus der Triebsublimation Kultur und aber auch Heilung erwüchse, dass Schuberts „holde Kunst“ einmal mehr aus den grauen Stunden heraus „in eine bessere Welt zu entrücken“ vermöge. Kurzum, dass sich mit und mittels meiner Erzählung die Krankheit wie magisch, sozusagen kulturgehorchend und -stiftend –, endlich davonmache!
Sie machte sich auch. Allerdings nicht weit. Während sie zuvor vornehmlich am Schultergelenk getobt hatte – beidseitig an und in den Schultern, später beidseitig im Unterarm, später wieder besonders sesshaft in der Schulterregion und im Oberarm – so fuhr sie, meine Schmerzkrankheit, jetzt, kaum war meine Erzählung „Ein Schmerz“ fertig und veröffentlicht, ein Stück weit nach unten, nämlich ins Kinn, in die Kiefer hinein, mal mehr in den Oberkieferzahnbereich, mal und immer häufiger und lieber in den Unterkiefer. Um eben dort einen kleinen, aber zähen und im Grunde durch nichts behandelbaren Dauerschmerz zu etablieren; dem insgesamt noch weniger als der Arm-Schulter-Malaise mit Medikamenten oder Krankengymnastik beizukommen ist.
Mit anderen Worten: Meine – immerhin sehr rare – Krankheit wollte mir sagen, sie pariere sehr wohl dem Leid-Kunst-Sublimationsgebot und mache sich also davon – sie biete mir aber auch gleichzeitig noch die kleine und nette Überraschung, als eine jetzt im Kieferdistrikt niedergelassene mir insofern wieder neuen Nachdenkstoff zu liefern. Und Erzählstoff. Nämlich eben eventuell Anlass für einen neuen und abermals hochwertigen literarischen Text zu sein.
Und genau darum, auf diesen verschwiegenen Appell meiner mir inzwischen psychologisch wohlvertrauten Krankheit hin, schreibe ich nämlich auch diesen mir von der „Wahrheit“-Redaktion vorgeschlagenen thematischen Text. Mal sehen, was passiert. Mal schauen und abwarten, ob sich derart und erneut angemahnt mein Schmerz, mein so multipler und multiplexer und doch letztlich so einsinniger Schmerz, vielleicht doch noch zum Abdanken und Verschwinden animieren lässt. Zumindest via Poesie zu einer Gestalt- und Taktikänderung.
Jawohl. Und die Chancen, immerhin, stehen gut. Denn schon heute Morgen, vor allem jetzt aber während des Schreibens, ahne, wittere, ja realisiere ich Erfolg: Mein Schmerz, er pocht weiter im Kiefer, aber auch jetzt wieder – an der Schulter! Mal sehen, dass er, aufmerksam, wie er ist, nach Beendigung des Textes vielleicht auch noch am Nasenflügel tobt. Beidseitig. Oder jedenfalls an beiden Ohren wangeneinwärts. Zum Schmerzausgleich. Und vor allem aus ästhetischen nämlich poesieförderlichen Gründen.
ECKHARD HENSCHEID
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