piwik no script img

Unschuld und Sühne

Eine Klinik für 1989er: Mit „Experiment 07“ zeigt das Orphtheater, wie Menschen an den Zeitläuften scheitern

All die Lebensträume aus dem 19. Jahrhundert scheitern schon an der rabiaten Ehefrau

Erst werden die Zuschauer in weiße Arztkittel gesteckt. Danach sehen sie wie eine Gruppe von Ärzten aus, die einem medizinischen Versuch zuschauen wird. Der Patient sitzt derweil schon in einem ziemlich folterkammerhaften

Käfig und ist natürlich eher Opfer als Patient. Auf einem Monitor ist zu sehen, wie ihm der rote Haarschopf unsanft vom Kopf rasiert wird, als bereite man hier eine Operation am offenen Schädel vor.

Konsequenterweise müssten die verkleideten Zuschauer jetzt sofort zur Befreiung des gepeinigten Wesens hinter Gittern schreiten. Sonst weist ihnen die Kostümierung die Rolle des voyeuristischen Täters zu. Aber das tut natürlich keiner. Als einzig mögliche solidarische Haltung bleibt so das gemeinsame Schwitzen unterm Kostüm, bei Außentemperaturen um 30 Grad.

„Experiment 07“ hieß der Abend im Orphtheater, ein Monolog aus Texten von Charles Bukowski, Anton Tschechow und Key Pankonin, eines Musikers der ehemaligen DDR-Punkband Die Firma.

Doch ein Experiment findet hier trotzdem nicht statt. Es wird nur ein kleines Unglück ausgebreitet, ein vergeudetes Leben beklagt. Der Zuschauer kann sich dann doch relativ schnell wieder beruhigt in seinem weißen Plastikstuhl zurücklehnen. Hier kann er als Voyeur gar nicht schuldig werden. Dies Unglück ist nämlich gänzlich hausgemacht.

Der Mann im Käfig ist der Schauspieler Uwe Schmieder, von dem auch das Konzept des Abends stammt. Nach einem kurzen und koketten Bukowski-Text, in dem von verschiedenen Selbstmordarten die Rede ist, hat er sich eine zerzauste Perücke aufgesetzt und einen alten Gehrock angezogen. Mit höchstem Körpereinsatz schildert er dann, frei nach Tschechows „Vom Schaden des Tabaks“, ein unglückliches Leben. Springt am Käfiggitter hoch, taumelt über Tisch und Boden, stürzt, schwingt sich auf eine umgestürzte Tischplatte, um auf ihr triumphierend wie ein Racheengel wieder aufzustehen.

Uwe Schmieder, spätestens seit seiner Baal-Darstellung im letzten Jahr einer der Stars der Offszene, kann einzelne Sätze so oft wiederholen und in die Länge ziehen, dass sich zwischen ihnen Abgründe der Verzweiflung auftun. Wir sind mitten im 19. Jahrhundert, in einer Welt der Verlierer, die keine Kraft mehr zum Widerstand haben, gegen das, was ihnen geschieht. Die Zeit rollt einfach über sie hinweg. Sie kommen nicht hinterher. Lebensträume scheitern schon an der rabiaten Ehefrau. Im Leben dieses bemitleidenswerten Kerls spielt auch das Datum 1889 eine Rolle. Seitdem hat ihn ein Augenzwinkern befallen. 1889 – das Datum lässt er sich auf der Zunge zergehen und wir ahnen schon: Hier redet einer auch von 1989.

Wie dieses Psychogramm eines Verlierers aus dem 19. Jahrhundert nun zum Bild eines 1989er-Verlierers wird, das hätte man gerne genauer gewusst. Aber der darstellerischen Kraft fehlte dann leider die gedankliche Schärfe, und so endete der gut einstündige Abend mit einer selbstmitleidigen und zudem noch reichlich antiquierten Punkhymne über alte Revoluzzer, die an ihrem Sattsein schon ganz verblödet sind, und einer alten Hure, die nun unter neuer Fahne wieder ihre Beine breit macht. Ach, wenn es so einfach wäre.

ESTHER SLEVOGT

„Experiment 07“, 29. 8.–1. 9., 21 Uhr, Orphtheater im Schokoladen, Ackerstraße 169/70 (Karten: 4 41 00 09)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen