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Gewerkschafter wehren sich gegen den Untergang

Bei der diesjährigen Sommerschule auf Sylt denkt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft über ihre Zukunft nach. „Management of Change“ soll die verkrusteten Strukturen aufbrechen. Doch viele Gewerkschaftsmitglieder würden es lieber bei kosmetischen Korrekturen belassen

SPD-Bundesgeschäftsführer MatthiasMachnig: Für die Gewerkschaft„ist es kein Luxus, sondern blankeNotwendigkeit, sich zu verändern“

KLAPPHOLTTAL/SYLT taz ■ Die Nordsee ist ziemlich aggressiv hier. Sie schlägt ihre Wellen beharrlich gegen die Küste. So stiehlt die See der Insel Sylt jedes Jahr ein paar Zentimeter Sand und nagt die Küste Stück für Stück ab. Das mondäne Nordseeeiland wehrt sich gegen seinen Untergang. Mit verzweifelter Gelassenheit kämpft Sylt gegen den Schwund der Substanz.

Ist es Zufall, dass sich die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) an diesen Ort begeben hat? Dass sie auf Sylt darüber nachdenkt, wie sie den Verlust ihrer Substanz, der Gewerkschaftsmitglieder, aufhalten kann? Dass sie in der Akademie am Meer in Klappholttal/Sylt diskutiert, was zu tun ist, um nicht in den Gezeiten der Globalisierung unterzugehen?

„Alternativen denken, Blockaden überwinden“, heißt das Thema der GEW-Sommerschule, die noch bis zum Samstag dauert. Vordergründig geht es um „Management of Change“ in Hochschule und Forschung. Aber über jedem Vortrag schwebt zugleich die Frage: Wie lässt sich eine traditionelle Organisation wie die Gewerkschaft überhaupt verändern? Welche Zumutung das für die Genossen ist, zeigt schon das erste Referat.

Immer wieder kichern die Sommerschüler in den Vortrag hinein. Wie eine Klasse halbwüchsiger Pennäler sabotieren die Gewerkschafter den Referenten – der nur auf den ersten Blick kein Feind für sie ist. Matthias Machnig ist Sozialdemokrat, eigentlich ein Freund der organisierten Arbeiterbewegung. Aber Machnig ist anders als die meisten hier: Er ist ein Macher, als Geschäftsführer ein hohes Tier im Berliner Willy-Brandt-Haus, der SPD-Parteizentrale. Und Machnig ist noch etwas: jung – jedenfalls für Gewerkschaftsverhältnisse. Mit seinen 40 Jahren dürfte er fast der Jüngste im Saal sein, wo die meisten über 50 sind.

Noch dazu spricht der Mann das Dilemma der Gewerkschaft offen an: Wie die SPD neige sie dazu, jede noch so kleine Frage zu „überpolitisieren“ – und würde dadurch entscheidungsunfähig. Beide wüssten nicht, was eigentlich ihre Dienstleistung ist. Und – das trifft am härtesten – sie machten das Mittelmaß zum Prinzip der Personalauswahl. „Wir gehören zu den strukturkonservativsten Organisationen, die es gibt“, bilanziert der SPD-Manager.

Aber Machnig kann noch so beredt predigen, dass Gewerkschaft und SPD sich öffnen, ihre Arbeit professionalisieren und vor allem ihre Präsentation in Öffentlichkeit und Medien verbessern müssten. Das Publikum wehrt jedes Argument ab. Eine Frau will wissen, wie sich eine von oben dekretierte Veränderung denn mit innerer Demokratie vertrage. Ein junger Mann fragt lästernd, ob es um den Wettbewerb der besten Präsentation oder der besten Ideen gehe. Ein SPD-Mitglied meint: „Wozu braucht man die Parteileute noch, wenn man auch von außen mitbestimmen kann?“

Die Abwehrhaltung der Gewerkschafter hat etwas von der verzweifelten Gelassenheit, mit der die Sylter sich gegen den Untergang wehren. Denn die Situation ist bei Partei wie Gewerkschaft dramatisch schlecht. Nur um ihre Altersstruktur zu halten, bräuchte die SPD jährlich 15.000 neue Mitglieder. Im vergangenen Jahr hat sie aber 36.000 verloren, allein 17.000 durch Tod. Die GEW steht nur wenig frischer da. 100.000 der 270.000 Mitglieder sind jenseits der 50, im Twenalter dagegen finden sich nur gute fünf Prozent. Es ist daher kein Luxus, sondern „blanke Notwendigkeit“ (Machnig) sich zu verändern. Der strapazierte Terminus in Klappholttal lautet dafür: die Organisation weiterentwickeln. Oder: „Management of Change“.

Auch wenn sich mancher GEWler noch wehrt – Sozialwissenschaftler sehen auf zwei Feldern Handlungsbedarf. Welchen Service vermag eine Gewerkschaft ihrer zunehmend inhomogenen Mitgliedschaft anzubieten? Und welche ideologischen Angebote muss sie machen? Der Organisator der Sommerschule, GEW-Vorstand Gerd Köhler, hat da einen listigen Satz für seine Kollegen parat: Es komme nicht so sehr darauf an, neue Ideen zu entwickeln, sondern den alten zu entkommen.

Das ist ein Bonmot, das in der Akademie Beifall findet. In der gewerkschaftlichen Realität sieht das freilich anders aus. So hat sich die GEW noch vor wenigen Wochen auf einem Gewerkschaftstag um etwas gestritten, das weder in der deutschen Schulwirklichkeit noch in der Gesellschaft derzeit Konjunktur hat: die Gesamtschule. Mühsam einigte man sich schließlich auf ein neues schulpolitisches Leitbild: „Eine Schule für alle“ heißt die Gesamtschul-Idee nun. Was das genau ist, können die Gewerkschafter freilich nur schwer erläutern. Entsprechend war die Reaktion von Eltern und Schülern auf den Gesamtschul-Aufguss der GEW: Kaum jemand nahm davon Notiz.

Viele Gewerkschafter finden gar nicht, dass „Management of Change“, wie es die GEW-Sommerschule diskutiert, Auswirkungen auf Inhalte und Ziele ihrer Arbeit haben sollte. Den Service ein wenig verbessern und die Mitglieder anders ansprechen – darauf würden die Gewerkschafter die Organisationsreform gerne beschränken. Kosmetische Korrekturen aber reichen nicht, es geht um die Substanz. Das könnte die GEW von Sylt lernen.

Auf der Insel stecken Strandarbeiter seit Jahrhunderten Reisigbüschel unterhalb der Dünen zu Karrees zusammen. Kleine Fangareale für den Sand, den der Wind umherpustet. Ob das die Insel wohl rettet? „Nej“, ruft ein Strandarbeiter, „alle paar Jahre muss der Bagger ran. Und den Strand ganz neu aufschütten.“

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