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Privatarbeit im Sozialstaat

Von der Metaphysik der Billy-Regale: In seinem Dokumentarfilm „Mit Ikea nach Moskau“ verfolgt Michael Chauvistré den Einzug des schwedischen Möbelhauses Ikea in seinen Moskauer Ableger

Der alte Schwedehat es fertig gebracht,Leo Tolstoi mit Henry Ford zu vereinen

von HELMUT HÖGE

Unverständlich, warum das Berlinale-„Forum“ diesen Film ablehnte. Obwohl ich zugeben muss, dass er etwas dichter hätte sein können. Egal, die Eröffnung der 153. Ikea-Filiale und dann noch in Moskau – das ist schon eine Dokumentation wert. Dabei hatte Regisseur Michael Chauvistré auch noch ausgesprochenes Glück mit den Mitwirkenden: zwei sehr souveränen Verkäufern aus der alten Spandauer Ikea-Filiale, die einst zur Versorgung Westberlins gebaut worden war. Manuela ist eine Realistin aus dem Osten und Ulf ein sentimentaler Wessi. Bei Ikea-Spandau, Westberlin, lernten sie sich lieben, verließen ihre jeweiligen Partner, setzten ihre Kinder auf E-Mail-Distanz und zogen zusammen. In Chauvistrés Film „Mit Ikea nach Moskau“ bauen sie die Moskauer Filiale mit auf.

Kurz vor dem Eröffnungstag beherrscht die beiden vor allem die bange Frage: Werden genug Kunden kommen? Die deutsch-schwedisch-russische Ikea-Truppe fühlt sich ein wenig wie ein großes Theaterkollektiv vor der Premiere. Die Regale wurden mit Werbegeschenken vollgepackt, eine Tombola organisiert, ein Wachdienst eingerichtet, „Hamburger Reiter“ angemietet usw. Doch die Massen kommen schon Stunden vor der Eröffnung, insgesamt sind es schließlich 37.000 Menschen, die sich da auf dem riesigen Ikea-Parkplatz in klirrender Kälte zu immer neuen Schlangen formieren. Zuletzt hilft sogar der aus Schweden eingeflogene Firmenpatriarch Ingvar Kamprad aus. Auf diese lockere Weise lernt die kleine Kassiererin Manuela den großen Kreator der Ikea-Philosophie persönlich kennen, während Ulf immer noch gekränkt darüber ist, dass man ihn nicht an einer Sitzung teilnehmen ließ, auf der er dem berühmten Mann hätte nahe kommen können.

Das Filmteam folgt einigen Moskauer Ikea-Kunden bis nach Hause, wo sie ihre Schränke, Lampen etc. sofort zusammenbauen und in Gebrauch nehmen. Denn das ist neben allem Gerede vom großartigen Teamgeist der Mitarbeiter, die permanent zusammen Ikea-Lieder singen, der Kern der ganzen Ikea-Philosophie – und ihres Erfolgs. Der US-Wirtschaftsforscher Jeremy Rifkin spricht von einer „schwerelosen Ökonomie“. Gemeint sind damit Firmen, die ihr fixes Kapital, also die Produktionsanlagen, nur pachten bzw. irgendwo und so billig wie möglich produzieren. So ließ Ikea früher viel in der DDR herstellen und jetzt in China. Während seiner Inspektion der Moskauer Ikea-Filiale kommt der Firmengründer Ingvar Kamprad darauf zu sprechen. Vor allem aber liegt ihm die Präsentation seines berühmten Billy-Regals am Herzen, das wahrscheinlich als einziges Ikea-Produkt noch in Schweden gemacht wird: aus handgefällten und dann zerschredderten Fichten.

Eine schwedische Studie über die Zunahme der „schwerelosen Ökonomie“ kommt zu dem Schluss, dass der Anteil des „intellektuellen Kapitals“ der meisten Unternehmen einen fünf- bis 16-mal höheren Börsenwert erreicht als das Sachkapital, von dem Ersteres sich zunehmend abkoppeln. Gleichzeitig werden jedoch auch angehende Intellektuelle bei Ikea als Konsumenten mit der hinterm Horizont verschwundenen Produktion symbolisch wieder versöhnt, indem sie zu Hause ganz alleine, mit einer komischen Gebrauchsanweisung in der Hand, das Halbfertigprodukt fertig erstellen.

Im Grunde hat der alte Schwede das Kunststück fertig gebracht, Leo Tolstoi mit Henry Ford zu vereinen. Dazu kommt nun noch eine Prise Bill Gates, also die verdammte Logistik. Schon am ersten Tag gingen in Moskau die Ikea-Bleistifte aus! Für Momente malte sich bei Dispatcher Ulf das entsetzte Gesicht von General Paulus aus – angesichts der absoluten russischen Weite und Wegelosigkeit. Dabei wurden die deutschen Ikea-Mitarbeiter durchaus komfortabel in Moskau untergebracht, und die schwedischen Mitarbeiter noch komfortabler, etwa mit rundum verspiegeltem Orgien-Bett. Bei Ikea kann man solche Schweinereien zum Zusammenbasteln bis heute noch nicht kaufen!

Das, was die DDR befürchtete zu werden – eine verlängerte Werkbank der Westkonzerne – hat Ikea umgedreht und schon längst realisiert: Der Westkunde wird als Individuum spielerisch zur verlängerten Werkbank des Ostens, von wo die Ikea-Halbfertigprodukte angeliefert werden. Und der halbgebildete Westkunde weiß dies durchaus zu schätzen. Das ist nicht nur eine Frage des Preises. Denn ohnehin werden in der pseudointellektuellen Dienstleistungsgesellschaft von Industrie und Handel immer mehr Reparatur- und Handwerksbetriebe „gelegt“, indem man zunehmend laiengerechtere Halbfertigprodukte anbietet. Bei den Heimwerker- und Baumärkten vergeht kein Tag, an dem nicht ein neues Do-it-yourself-Verfahren angeboten wird. Hierbei kommt Ikea durchaus die Rolle der Avantgarde zu, indem es die Produktionslinie bis zum Kunden verlängert hat.

Eines der neuen Probleme, die dabei auftreten, besteht in der „Gebrauchsanweisung“. Als Prä-Ikea-Mensch lese ich so etwas nicht: Lieber nehme ich in Kauf, dass zum Beispiel meine Cracker irgendwann lappig oder pappig schmecken, als dass ich bei ihrer Verpackung nach Gebrauch die Laschen A und B wieder mit dem Schlitz C vereinige. Die Push-Button-Generation ist aber bereits anders „programmiert“: Es gibt inzwischen jede Menge junge Konsumenten, die nichts anderes als Gebrauchsanweisungen lesen – und im Internet kommunizieren. Das trägt natürlich zu deren Verbesserung bei, wie andererseits auch die Tendenz, sich mehr Mühe beim Verfassen von Gebrauchanweisungen in den diversen Sprachen zu geben. Die Exportnation BRD zum Beispiel bietet inzwischen in Kooperation mit großen Konzernen (u. a. Siemens) arbeitslosen Journalisten und Akademikern Umschulungen zu „Gebrauchsanweisungs-Redakteuren“ an.

Das führt dazu, dass die Do-it-yourself-Idee längst nicht mehr auf Hausausbau, Kachel- oder Klempnerarbeiten beschränkt ist. Bei den Elektronikgroßmärkten kann man sich bereits mit Hightech-Teilen eindecken, um sich seine eigenen Rechner, CD-Brenner und Drucker zu bauen. Der Tag ist nicht mehr fern, da die meisten Autofabriken, die ja nur noch mit vorgefertigten Teilen produzieren, schließen werden, weil man als Autokäufer sich einfach ein Paket zusammenstellen kann – und sich das Auto dann zu Hause in der Garage in Form wieder „voneinander unabhängig betriebener Privatarbeit“ (Marx) zusammenbaut.

Dass dieses Verfahren dem Holz-Kapital Schwedens einfiel, ist nicht zufällig, denn dort erheischte der proliferierte Sozialstaat geradezu solche „produktiven“ Freizeitbeschäftigungen für seine Bürger. Gesamtgesellschaftlich gesehen finden die von der Arbeit entsetzten Massen damit erneut Anschluss an die gesellschaftlichen Produktionsprozesse. Ikea ist damit eine privatwirtschaftliche AB-Maßnahme von fast schon globalem Ausmaß. Man könnte auch von einem Branchenfaschismus sprechen – wenn man sich noch der Nazi-Arbeitskampfparole „Massenkonjunktur – nicht Lohnkonjunktur!“ erinnert.

„Mit Ikea nach Moskau“. Regie: Michael Chauvistré. Deutschland, 2000. 90 Min.

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