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Tschernobyl-Opfer gibt es nicht

Landessozialgericht in Erfurt hebt die Anerkennung von Krebs als Berufsleiden in Folge des AKW-Unglücks auf. Gutachter: Die natürliche Strahlung sei 50-mal höher gewesen als die Belastung, die durch verseuchte Lastwagen aus der Ukraine entstand

von CONSTANTIN VOGT

In Deutschland gibt es keine Tschernobyl-Opfer – so entschied gestern das Thüringer Landessozialgericht in Erfurt. Das Gericht hob die bundesweit erste Anerkennung der Berufskrankheit eines Tschernobyl-Opfers wieder auf. Das Gericht berief sich dabei auf ein Gutachten des Physikers Herwig Paretzke. „Unverständlich“ nannten Experten die Wahl des Gutachters, der Münchener sei bekannt als „pro-nuklearer Hardliner“.

Der Prozess ging um den Thüringer Klaus Neukirch. 1998 hatte das Sozialgericht Nordhausen Neukirchs Krebsleiden als Berufskrankheit anerkannt. Dagegen legte die Berufgenossenschaft Revision ein. Neukirch ist vor zwei Jahren an Darm- und Prostatakrebs gestorben. 1986 war er Chef des VEB Kraftverkehr in Mühlhausen. Nach der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl überwachte er die Säuberung von verstrahlten Lastwagen aus der Ukraine. Sechs seiner damaligen Arbeitskollegen sind ebenfalls an Krebs gestorben. Nur einer der Brigade lebt noch: der 70-jährige Otto Zöllner.

Ausgerechnet Herwig Paretzke, Leiter des Münchener Instituts für Strahlenschutz, bestellte das Erfurter Gericht als Gutachter. Dabei eilt Paretzke sein Ruf voraus: „Das ist einer der Härtesten“, sagt ein Kollege. Paretzke hatte nach dem Transportstopp der Castoren 1998 behauptet, die ausgetretene Strahlung sei unbedenklich. Am Anfang des Jahres trat er für die Unbedenklichkeit von Uranmunition im Kosovo ein. Sein Urteil: „harmlos“. Damals musste er sich von der Gesellschaft für Strahlenschutz vorwerfen lassen, dass seine Studie „schwerwiegende methodische Mängel“ aufweise. Außerdem war der Physiker maßgeblich an der Unbedenklichkeitserkärung für die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf beteiligt.

Das Landessozialgericht scheint das alles nicht zu wissen. Von einem „weltweit anerkannten Strahlenschutzexperten“ ist die Rede. Die Kritiker halten dagegen, dass Paretzke Physiker sei – nicht Biologe oder Mediziner.

Der Strahlenmediziner Professor Wolfgang Köhnlein steht dem Prozessergebnis skeptisch gegenüber: „Die Urteile fallen meistens gegen die Betroffenen aus.“ Köhnlein spricht aus Erfahrung – er hat bereits selber Gutachten für ähnliche Fälle geschrieben. Es gebe zu große Differenzen zwischen dem Gutachten des ersten und zweiten Prozesses: Laut Paretzke hat sich der Experte im ersten Prozess bei der Strahlendosis um den Faktor 1.000 vertan. Für Köhnlein nicht nachvollziehbar: „Wenn sich zwei Aussagen so widersprechen, müssen Richter nachhaken.“

Paretzke schreibt weiter, die natürliche Strahlung im Umfeld von Neukirch sei 50-mal höher gewesen, als die radioaktive Belastung durch die Lkws. Ein unsinniger Verlgleich, sagt Professor Edmund Langenfelder, Leiter des Otto-Hug-Strahleninstituts: „Das sind rechnerische Spielchen. Das hat nichts mit Biologie oder Medizin zu tun.“

Das Urteil ist nicht anfechtbar – eine Revision vor dem Bundessozialgericht in Kassel wurde nicht zugelassen.

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