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Cassandra auf der Kiste

Kommt alle zum Wittenbergplatz in Berlin! Das Orakel Ringel widerruft

Auf der Liste finden sich fünf spektakuläre Weissagungen und die Unterschrift des Orakels

Der Redakteur dieser feinen, kleinen Seite ist ein Mann von bedächtigem, zurückhaltendem Wesen. Unbedachtes Handeln ist ihm fremd. Als Meister der Analysis zerlegt er Texte und Thesen akkurat wie ein chinesischer Koch eine Pekingente: In Diskussionsrunden schweigt er, bis sich die aufgeregtesten Teilnehmer beruhigt haben, dann trägt er in kurzen Sätzen seine Argumente vor. Und während die Kollegen anderer Ressorts zehn Minuten vor Redaktionsschluss einen Nervenzusammenbruch erleiden, weil die Artikel ihrer freien Mitarbeiter immer noch nicht vorliegen, sitzt Herr Ringel gelassen an seinem aufgeräumten Schreibtisch und putzt seine Brille. Allenfalls zehn Minuten nach Redaktionsschluss greift er zum Telefonhörer, wählt die Nummer des säumigen Lieferanten und erkundigt sich höflich, ob man denn „vorankomme“.

Es ist daher umso erstaunlicher, dass dieser Mann an einem einzigen Punkt alle Vorsicht vergisst und gewissermaßen zum Gegenteil der eben beschriebenen Person wird: Herr Ringel ist nämlich nicht nur Redakteur dieser feinen, kleinen Seite, sondern auch Medien-Orakel. Fragt man ihn etwa, wie es wohl mit der Bundesliga-Berichterstattung weiterginge, schüttelt er sofort eine überzeugende Antwort aus dem Ärmel – bis ins kleinste Detail schildert er dann, welche Entwicklung der Kirch-Konzern sowie der Fußball im Allgemeinen nehmen werden. Einmal in Fahrt, sagt das Orakel Zeitschriftengründungen und -verkäufe voraus; auch Umstellungen auf Vierfarbdruck und die Besetzung von Chefredakteursposten wurden schon vorhergesehen.

Um angesichts der Vielzahl von Prognosen den Überblick zu behalten, legten Kollegen im Herbst 1997 eine Liste an. Auf ihr finden sich nicht nur insgesamt fünf spektakuläre Weissagungen, sondern auch die Unterschrift des Orakels: Herr Ringel verspricht hier vor Zeugen, „im Falle des Nichteintretens jeder dieser Punkte“ seine Thesen auf dem Berliner Wittenbergplatz öffentlich „lauthals zu widerrufen“. Von einer Parkbank herunter. Aus Sicherheitsgründen nicht von einer Apfelsinenkiste wie an der legendären Speakers’ Corner im Hyde Park.

Was soll man noch sagen? Es ist so weit, denn zur großen Überraschung von Cassandra Ringel wurde weder der Berliner Tagesspiegel „bis zum 12. April 1998 an den Gruner und Jahr-Konzern verkauft“, noch die Berliner Programmzeitschrift Zitty „im Herbst 1999 eingestellt“. Konfrontiert mit seiner Signatur, erklärte sich der Redakteur dieser kleinen, feinen Seite bereit, am morgigen Samstag um 14 Uhr auf dem Wittenbergplatz wie angekündigt die Parkbank zu besteigen. Kollegen, Freunde und Verwandte wollen bis dahin ein Megafon, diverse Fotoapparate und mindestens ein Fernsehteam aufgetrieben haben. Ein Chor studiert ein Lied ein, kleine Mädchen sollen Blumen streuen. Bei Regen wird der Hellseher im U-Bahnhof Wittenbergplatz seine Stimme erheben, vor dem Ausgang Richtung Kleiststraße. Die Öffentlichkeit ist herzlich eingeladen, dem ersten Widerruf beizuwohnen. Mitglieder des Wahrheit-Klubs erhalten ein Glas Prosecco. Kommt alle!

CAROLA RÖNNEBURG

P. S.: Den nächsten Termin, Prognosen für das Jahr 2002 betreffend, entnehmen Sie bitte dieser Zeitung.

P. P. S.: Außerdem schuldet das Orakel den Kollegen Passig, Henschel, Lösch, Herrndorf und Rönneburg immer noch eine Flasche Grand Duc d’Alba („Sollte Helmut Kohl nach der Bundestagswahl nicht mehr Kanzler sein, werden mindestens fünf Karikaturisten das Thema ‚Der Lotse geht von Bord‘ in ihren Zeichnungen verwenden. Der Unterzeichner führt den Beweis.“).

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