: Von Mallorca zum Notalarm
■ Der Bremer Flughafen ist gerüstet für eine Katastrophe – über 300 Einsatzkräfte löschen einen simulierten Flugzeugbrand und verarzten 50 Schwerverletzte
Dunkle Gestalten machen sich mitten in der Nacht an einem Tank auf dem Flughafengelände zu schaffen. Der trübe Vollmond beleuchtet ihr Treiben. Was haben sie vor? Sabotage? Auf einmal rollt ein gewaltiger Feuerball in den Himmel! Geschrei und Geheul, dann wimmelt es vor Blaulichtern auf dem Flugplatz. Verwirrte Menschen mit grauenerregenden Verletzungen torkeln durch das nasse Gras. Was geht hier vor?
In der Nacht zum Sonntag probiert die Bremer Flughafenfeuerwehr aus, ob sie mit einer Flugkatas-trophe zu Rande käme. Das Drehbuch zur gestellten Katastrophe sieht vor, dass eine Boeing 737 mit brennendem Triebwerk auf dem Flughafen eintrudelt und bei der Notlandung auseinander platzt. Viele der 60 Insassen überleben schwerverbrannt. Unter den Angehörigen in der Wartehalle, die ihre Lieben abholen wollten, bricht erwartungsgemäß Panik aus. Während die Feuerwehr mit grimmigem Ernst ans Werk geht.
Zuerst muss sie allerdings die Kaninchen verscheuchen, die zwischen den Rollbahnen herumhoppeln. Das ist nicht schwer bei Vollmond. Doch schon schlagen brodelnde Flammen aus einem Dieseltank. Früher stand hier ein richtiges Flugzeugwrack zum Üben, bis es bei einer Übung geschmolzen ist. Rote Feuerwehrautos bremsen jetzt davor und spritzen Schaumfontänen in das Inferno. Ein ächzender, weißer Feuerball nach dem anderen bäumt sich auf, bis das Feuer erstickt ist. Es riecht nach Treibstoff. Aus dem Bodennebel schwanken Gestalten hervor, mit Geheul und ausgestreckten, zitternden Armen, wie in einem Horrorfilm. Einige bleiben im Gras liegen und schreien um Hilfe. Ein greller Scheinwerfer taucht alles in ein unwirkliches Licht.
Die Abgestürzten werden von 50 Mitgliedern des Jugend-Rot-Kreuz aus Oldenburg gemimt. Die Schminke sieht täuschend echt aus. Eine blutverkrustete Beule klebt auf einer Stirn, aus einem zerschlitzten Pullover schauen Brandwunden hervor. Die Schauspieler sollen um Hilfe schreien, verwirrt herumlaufen und die Helfer anmeckern, wie man das von richtigen Absturzopfer erwartet. Einer gurgelt: „Ich krieg keine Luft – mein Bauch, aah!“ Ein anderer ist gleich bei ihm und schimpft in Richtung Sanitäter: „Nun warten sie nicht so lange, der verreckt hier gleich.“ Ein anderes Opfer wiederholt ständig die Frage: „Sind wir nicht auf Mallorca?“ Stress hoch zehn für die Retter.
Derweil rangelt eine kräftige Frau mit den Rettern. „Wo sind meine Kinder?“, schreit sie. Sie will wieder zur Unglücksstelle zurück. Ein bulliger Feuermann, zwei Meter groß, leitet den Einsatz. Alle sind sehr ernst. Kommandos gellen durch die Luft: „Gelände absuchen.“ Taschenlampen blitzen auf. Noch ein Suchtrupp und noch ein zweiter Suchtrupp kommen anmarschiert.
Wer nicht gleich abtransportiert werden kann, wird wenigstens in Goldpapier verpackt – wegen der Kälte. Ein Team hat derweil mehrere orange Lazarettzelte aufgestellt. Kompressoren knattern. In den Zelten herrscht hektische Betrieb-samkeit. Die Opfer werden hereingetragen und mit Schläuchen und Transfusionen versehen. Notärzte simulieren eine Operation. Mitten im Gewühl: Innensenator Kuno Böse (CDU) mit seiner Entourage. Er spaziert herum und guckt sich die gespielte Katastrophe an.
Die Übung dauert bis spät in die Nacht. Zurück bleibt nur der Abkürzungswahn: Dieser Massenanfall von Verletzten (MANV) wurde nach den Richtlinien der Internationalen Zivilluftfahrtbehörde (ICAO) durchgeführt. Mit tatkräftiger Mithilfe durch den Abrollbehälter-Rettungsdienstes (AB-RD), der Patientenversorgunsstelle (PVSt.) und der leitenden Notarztgruppe (LNA-G). Nicht zu vergessen: die Schnelleinsatzgruppe des Arbeiter-Samariter-Bundes (SEG-ASB), die Mitglieder der Oldenburger „Realistischen-Unfall-Darstellung“ (RUD) und der organisatorische Leiter des Rettungsdiens-tes (OrgL-RD). Zum Abschluss essen die verfrorenen Retter und Opfer (Verf-RO) in einem gemütlichen Beisammensein (GBS) jeder eine dampfende Portion Chili con Carne (CCC). Und alles wird gut. Auch nach so einem Tag.
Tom Brägelmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen