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DFB-Elf beugt sich den Tatsachen

Dem Hochgeschwindigkeitsfußball von Beckham und Co kamen die deutschen Spieler zu kaum einem Zeitpunkt hinterher, weder physisch noch psychisch

aus München FRANK KETTERER

Rudi Völler war nicht erschienen im großen Zelt vor dem Stadion, um ein paar Worte zu sprechen zur Lage des deutschen Fußballs. Bestimmt hätte der deutsche Teamchef ein paar Dinge anzumerken gehabt – es war ja so Unglaubliches geschehen im Münchner Olympiastadion. In diesem Moment aber interessierte Rudi Völler all der Fußball nicht mehr, längst ging es um Wichtigeres: das Leben seines Vaters. Der hatte nach etwas mehr als einer halben Stunde Spielzeit einen Herzinfarkt erlitten auf der Tribüne und war von Notärzten direkt ins Krankenhaus gebracht worden. Und dorthin war nun auch sein Sohn unterwegs, gleich nach dem Spiel, als er davon erfahren hatte.

So blieb auf dem breiten Podium der Pressekonferenz ein Stuhl leer. Und ausgerechnet dem Mann auf dem Platz daneben war es vorbehalten, den bemerkenswertesten Satz zu diesem für den deutschen Fußball so traurigen Abend auszusprechen: „Es gibt Wichtigeres als Fußball“, sagte Sven-Göran Eriksson, Englands schwedischer Trainer. „Viel wichtiger als Fußball ist, dass es Rudis Vater bald wieder besser geht.“

Ein paar Worte verlieren über die 1:5-Niederlage im eigenen Land aber wird man dennoch müssen, das Leben geht schließlich weiter – zum Glück auch für Kurt Völler. Zumindest für die deutsche Nationalmannschaft aber wird es in näherer Zukunft wieder weit weniger angenehm sein, weniger euphorisch, was nicht unbedingt verwundern darf nach der höchsten Heimniederlage der letzten 70 Jahre und nachdem zumindest die direkte Qualifikation für die WM im nächsten Jahr in Japan und Südkorea mit einem Schlag eher unwahrscheinlich geworden ist. Und man muss wahrlich kein besonderer Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass im Lande des dreifachen Weltmeisters nun vieles wieder schwarz eingefärbt wird, was bis vorgestern noch weiß schimmerte – zu schmerzhaft wurde dem deutschen Kickervolk in München vorgeführt, wie weit der Weg zurück zur Weltklasse noch ist und wie klein das Stück, das sie seit der EM vor einem Jahr zurückgelegt haben unter Teamchef Rudi Völler und Bundestrainer Michael Skibbe.

„Wir wissen, dass wir als Mannschaft noch nicht so weit sind wie beispielsweise vor der WM 1990“, bemerkte ein sichtlich mitgenommener Michael Skibbe, was nach der 1:5-Pleite fast schon sarkastisch klang; schließlich wurde Deutschland just in jenem Jahr zum dritten Mal Weltmeister. Alles in Grund und Boden verdammen zu lassen, war der Bundestrainer jedoch eben so wenig bereit. Vielleicht kam seine Sicht der Katastrophe auch deshalb leicht grotesk daher: Gut begonnen habe die deutsche Elf – was immerhin stimmt und in Carsten Janckers 1:0 nach acht Minuten seinen Niederschlag fand. Selbst nach dem Ausgleich durch Michael Owen in Minute 13 habe sie gut mitgespielt und Paroli geboten in der Folgezeit, quasi bis zur Pause. Dann aber habe man zwei Treffer kassiert zu „unglücklichem Zeitpunkt“, nämlich kurz vor und nach der Halbzeit – den einen durch Gerrard, den anderen erneut durch Owen. Schließlich seien dann beim 1:4 (66./Owen) und 1:5 (74./Heskey) alle Dämme gebrochen, was laut Skibbe so nicht nötig gewesen wäre.

Vielleicht muss man ein solches Spiel ja so sehen als Bundestrainer, sonst könnte man sich ja gleich seine Papiere geben lassen. Vielleicht aber hat Skibbe in Wirklichkeit auch ganz genau erkannt, was die Engländer gespielt haben mit den Deutschen: Katz und Maus nämlich. Er hat es nur nicht ganz so deutlich sagen wollen, der Abend war ja so schon schlimm genug.

Von Fußball, wie ihn die Engländer am Samstagabend zelebriert haben, sind die deutschen Kicker Lichtjahre entfernt. Was Beckham und Co bisweilen auf den Rasen zauberten, war jedenfalls atemberaubend, mehr noch: Atem raubend, und das für die deutschen Spieler im brutalsten Sinne des Wortes: Dem Hochgeschwindigkeitsfußball der Briten kamen Deisler und Co zu kaum einem Zeitpunkt hinterher, weder physisch noch psychisch. „Die hatten viel zu viel Raum“, erkannte immerhin später Sebastian Deisler. Er hätte auch sagen können, dass Scholes, Beckham und Gerrard sich diesen Raum bereits im Mittelfeld einfach nahmen, weil der Berliner und seine Kameraden diesem Tempofußball nichts entgegenzusetzen hatten, nicht einmal Destruktion. Denn selbst dafür waren sie zu langsam.

So prallte der Angriffswirbel der Engländer, zuvorderst der wunderbare Michael Owen, ein ums andere Mal ungebremst auf die deutsche Abwehr, die meist steinalt aussah. Selbst Oliver Kahn zeigte sich davon verunsichert: Bei gleich drei der fünf Treffer sah der Keeper unglücklich aus. Dementsprechend zerknirscht war Kahn nach dem Spiel. So richtig einschätzen können die Betrofffenen das Debakel noch nicht. „Bisher war es leicht, gute Stimmung zu haben“, sagte folgerichtig Oliver Bierhoff, erneut nur Ersatzspieler. „Jetzt müssen wir auch mal die Schattenseite durchleben und zusammenhalten“, wobei nicht nur die Trainer, sondern die ganze Mannschaft gefordert seien.

Auch Torsteher Oliver Kahn empfiehlt, „den Kopf nach dieser Katastrophe nicht hängen zu lassen“. Der deutsche Kapitän ist im Übrigen „trotzdem überzeugt, dass wir die WM-Qualifikation schaffen“, notfalls durch zwei Entscheidungsspiele gegen den Zweiten aus Gruppe fünf, Ukraine oder Weißrussland (10. bzw. 11. und 14. November), auf die sich der DFB trotz des noch ausstehenden letzten Gruppenspiels gegen Finnland am 6. Oktober „Auf Schalke“ schon mal seelisch vorbereiten kann. Das Aufgebot hierfür gab Skibbe noch spät am Samstagabend bekannt: „Wir werden den Spielern, die hier in München waren, weiterhin vertrauen.“ Viel anderes hätte Rudi Völler nach diesem Abend wohl auch nicht gesagt.

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