Trotz Buddel: Die Saison war toll

■ Der Sommer ist vorbei, dunkle Wolken ziehen über die herbstliche Weser-Metropole. Doch unsere große, zweiteilige Serie lässt zurückblicken auf hochsommerliche Highlights. Heute: Straßenmusik im Herzen der Stadt

Überall fängt er wieder an zu brummen, der Kulturbetrieb der festen Spielstätten. Die Ästheten mit dem festen Dach über dem Kopf schütteln den Sommerschlaf ab. Pressekonferenzen werden einberufen, Spielzeiten eröffnet, Grabenkriege fortgeführt, neue Darsteller präsentiert.

Doch ihre Spielzeit, sie ist vorbei: die der zahlreichen namenlosen Straßenmusiker, die unseren Ohren geschmeichelt und buntes Leben in verödete Herzen und Innenstädte getragen haben. Jetzt, wo sich das Licht zu weißen beginnt, kehren sie zurück in ihre oft weit entfernten Heimstätten, in kaukasische Bergdörfer und anheimelnde Andenhütten.

Wissen Sie noch, wie alles begann? Ich glaube, Mike und Juri aus Moskau waren die Ersten. Wochenlang trieben die Clowns-Akrobaten ihre Scherze an der Schlachte – bis sie den Sprung von der Weser auf den Marktplatz wagten. Dort, auf bald UNESCO-geschwängertem Stein, warfen sie ihre bunten Keulen in die Luft, forderten Applaus mit unwiderstehlichem Augenstrahlen – und sahen sich immer schärfer werdender Konkurrenz ausgesetzt. Denn nicht nur der Russe war da, auch die anderen GUS-Staaten hatten ihre musikalischen Vertreter entsandt.

Ja, das war ein Sommer. Unter den schattigen Arkaden des Rathauses hatte sich das Wolga-Streichquartett eingerichtet, spielte ein Ave Maria nach dem anderen und ging flexibelst auf Buddels Zwischenrufe ein, der ja seine Klappe gar nicht gut halten konnte. In der Tat, es war nicht leicht für unsere musikalischen Brüder und Schwestern. Presslufthämmer und Schweißgeräte wurden – ganz im Sinne neutönender Musik-Konzeptionen – zu ständigen Begleitern. Ständiger Begleiter war außerdem Paragraph 5 des Ortsgesetzes über die öffentliche Ordnung: „Nach 30 Minuten muss ein neuer Darbietungsort aufgesucht werden, der so weit entfernt ist, dass eine Lärmbelästigung am alten Darbietungsort ausgeschlossen werden kann.“ Der „Fünfer“ sei aber zumeist liberal gehandhabt worden, versichert Joachim Becker vom Stadtamt. Das bestätigt auch Klaus der Geiger, der Grand Old Man of German Streetmusic: „In Bremen habe ich immer gerne gespielt. Die Behörden lassen einen ziemlich in Ruhe.“ Sein Podium war der Eduscho/Sögestraße – „da wollten so viele spielen, dass man anstehen musste, um dranzukommen.“ Klaus ist natürlich auch der Kronzeuge für die Veränderung der Szene: „Heute singen die Leute keine eigenen Lieder mehr, schon gar keine politischen. Jetzt dominieren die virtuosen Instrumentalmusiker. Die anderen werden vom Volk stehen gelassen.“

Nun, Palo war keiner, den man stehen ließ. Mitte August kam er, den mit Fug und Recht als König der diesjährigen Saison bezeichnen kann. Steht er auch vor Ihrem inneren Auge in unverwischter Schärfe? Unerreicht eindrucksvoll stand er da, allein, in einen hünenhaften Leib gebettet – Palo aus Lettland. In der prankigen Linken hielt er das Akkordeon, die Rechte meisterte zugleich eine Ventilposaune, deren Mundstück im dicht bewachsenen Gesicht mündete. Palo war König, der Gattin und Prinzessinnen-Tochter gleich mitgenommen hatte auf seine sechsmonatige Reise durch die West-Metropolen. Das bringe viel mehr ein als sein vorheriger Job als Musiklehrer am Konservatorium, erzählte Palo, während er gleichzeitig den Radetzky-Marsch vor der Bürgerschaft intonierte. „Der isoliert auftretende Musiker stellt keine Sondernutzung da“, versicherte Stadtamt-Becker großzügig. Gut für Palo, gut auch, dass er keine selbst gebrannten Kassetten in rollende Rubel umwandeln wollte – denn das hätten Beckers KollegInnen von der Gewerbeaufsicht gar nicht gut heißen können.

Die drei singenden Grazien aus der Schütting-Gasse haben sie dieses Jahr nicht beim Verhökern illegalen Liedgutes erwischt. Selbstkomponiertes war es, das Ludmira, Savana und Olga in zart-transparenten Wendungen zumBesten gaben – der kirgisische Kulturminister hatte es auch schon gehört und für gut befunden. Stolz zeigten die drei blonden Anfangvierzigerinnen die bunten Fotos, die den wichtigen Mann in ihre Mitte rücken. Von der kirgisischen Staatsbühne in der Bremer Gasse, eine Zumutung? Aber nein, versichert die Blondeste mit bezauberndem Lächeln, die Bremer seien sehr sehr nett. Dass sie eigentlich die Touristen lobte, schmälerte keineswegs den Weser-Ruhm – zumal Hamburg für Straßenmusiker ja „gar nicht nett“ sei. Auch Oldenburg hat es nur auf einen einzigen Tag im diesjährigen Tourneeplan des „Regenbogen-Terzetts“ (frei aus dem Kirgisischen) gebracht. Der Böttcherstraßeneingang hörte Ludmiras Lieder hingegen geschlagene drei Wochen. Sie erinnern sich? Von Tag zu Tag gewann der Gesang an Prägnanz, auch das Outfit der drei changierte weg vom Heilsarmeehaften zu buntglitzernden Showbiz-Kostümen.

Ja, es war ein praller Sommer. Wenn Sie bald wieder in irgendwelchen verschnarchten Premieren unserer festen Häuser sitzen, schließen Sie die Augen und lassen Sie die Gedanken schweifen zu Ludmira, Palo und Mike – zu ihrer Musik und ihren Roadstories, die uns alle diesen langen schönen Sommer hindurch anwehten. Henning Bleyl

Lesen Sie nächste Woche im Sommerrückblick: „Nacktbaden im Unisee – ne, was war das herrlich“