: Gefährliche Konter aus der letzten Ecke
Serena Williams schlägt Lindsay Davenport bei den US Open und freut sich auf das Halbfinale gegen Martina Hingis
NEW YORK taz ■ Dieser Schrei! Markerschütternd. Aus der Tiefe ihrer Seele. Stünden Bäume auf dem Centre Court, die Blätter wären zitternd von den Ästen gefallen. Zur Oper hätte sie gehen sollen mit dieser Stimme. Mit diesem Volumen. Aber als Tennisspielerin macht sie sich auch nicht schecht. Um zu erkennen, was das das Besondere an Serena Williams ist, hätte der letzte Ballwechsel im Viertelfinale der US Open gegen Lindsay Davenport genügt (6:3, 6:7, 7:5). Dreimal hielt sie, fast ausgespielt in der Vorhand-Ecke, nur mühsam das Gleichgewicht, dreimal erwischte sie den Ball soeben noch. Aber aus der Defensive konterte sie mit Macht, gewann den Punkt und das Spiel. Zwei Matchbälle hatte sie vergeben im Tiebreak des zweiten Satzes, im dritten hatte sie wieder eine viel versprechende Führung verspielt, doch am Schluss kam es darauf nicht mehr an.
Vor der Begegnung hatte sie sich von ihrer Schwester Venus einen Vortrag darüber anhören müssen, einen echten Champion erkenne man an dessen Fähigkeit, in kritischen Situationen die Nerven zu behalten. Venus’ Worte wirkten wie Medizin – Serena behielt die Nerven und spielte am besten, als es am meisten zählte. Hinterher sagte sie, sie habe diesen Sieg, den siebten in insgesamt neun Spielen gegen Davenport, vor allem deshalb so sehr gewollt, weil er sie ins Halbfinale am morgigen Freitag zu Martina Hingis führen werde.
Wie ein Champion ein Spiel zu Ende bringt, das möchte sie sich, und allen, die ihr nahe stehen, am liebsten gegen Hingis beweisen, weil es eine Erinnerung gibt, die ihr nicht besonders gut gefällt: Bei der letzten Begegnung mit der Rivalin vor acht Monaten im Viertelfinale der Australian Open führte sie 4:1 im dritten Satz und verlor dennoch 6:8. Die Zeit zwischen jenem 4:1 und dem 6:8 war randvoll mit Aufregung, Dynamik und sensationellen Ballwechseln von der Leuchtkraft eines Feuerwerks, doch nur die Siegerin konnte sich darüber später noch freuen.
Martina Hingis erinnert sich gern – nicht nur wegen des mitreißenden Endspurts. Denn zwei Tage nach dem Erfolg gegen Serena besiegte sie auch Venus Williams; die wirkte zwar in jenem Spiel seltsam indisponiert, doch das kümmerte Hingis herzlich wenig. Schließlich war dies der allererste Erfolg gegen beide Schwestern innerhalb eines Turniers. Den Preis für den Kraftakt zahlte sie allerdings im Finale, als sie nicht mehr die Energie hatte, sich gegen den Sturm und Drang von Jennifer Capriati zu wehren.
Eine der drei aus der Klasse Williams/Capriati war zu viel, aber verglichen damit die Hingis diesmal besser dran. Beim Sieg im New Yorker Viertelfinale gegen die 18 Jahre alte Daja Bedanova (6:2, 6:0) in weniger als einer Dreiviertelstunde ging fast alles wie von selbst; die arme Daja wirkte reichlich überfordert im ersten ganz großen Spiel ihrer Karriere. Aber was bisher war, das zählt nicht mehr, denn jetzt geht es um die entscheidende Frage: Ist Martina Hingis nach einem alles in allem enttäuschenden Jahr, in dem sie seit Februar keinen Titel mehr gewonnen hat, in der Lage, im Halbfinale zuerst Serena und danach unter Umständen deren Schwester Venus oder Jennifer Capriati zu besiegen? Und es geht bei dieser Frage nicht nur um den Sieg bei den US Open 2001, sondern auch um die Entscheidung, ob sie am kommenden Montag in der neuen Weltrangliste noch immer die Nummer eins sein wird. Verliert sie im Halbfinale und gewinnt Capriati, ist sie die Führung los.
Die Amerikaner sind gespannt darauf, wie Martina Hingis diese Herausforderung meistern wird – um es mal so neutral wie möglich auszudrücken. Dass sie im Finale zur besten Sendezeit am Samstagabend natürlich am allerliebsten zwei aus ihren Reihen sähen, versteht sich von selbst. Jetzt sind sie hellwach; kein Wunder nach so einem Schrei. DORIS HENKEL
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