piwik no script img

lidokinoDer Saalschlaf der Unschuld und Claire Peploes herbstliches Gefühlstheater „Triumph der Liebe“ bei der Filmbiennale in Venedig

Verbale Verführung im Park

Kontrollverluste haben immer etwas Peinliches, mögen sie noch so klein und kurz sein. Zum Beispiel, wenn man am Ende eines Films nach dem Applaus aufwacht und erzählt bekommt, dass man gerade eine Stunde lang tief und fest auf der Schulter der distinguierten Kollegin von der Neuen Zürcher Zeitung geschlafen hat, die deswegen ganz heroisch versuchte, ihre Niesanfälle zu unterdrücken. Oder wenn man beim Rausgehen von wildfremden Leuten erfährt, dass sie schon während des Films vergeblich zaghafte Weck- und Rüttelversuche unternommen haben, weil sie bei ihrer Saalflucht nicht über einen halb über der Reihe ausgestreckten Körper steigen wollten.

Wer im Kino manchmal so tief schläft wie ich, hat immer ein Grundvertrauen in die Menschen, die drum herum sitzen. Man weiß nie, wer was mit einem anstellt und auf welche Schulter oder wessen Schoß (tatsächlich auch schon passiert) man letztlich heruntersinkt. „Im Kino schlafen“, hat Godard mal gesagt, „heißt dem Film vertrauen“ – aber eben auch dem Nebenmann.

Von Clare Peploes wunderschönem Theaterfilm „Triumph der Liebe“ habe ich also nur die erste Stunde gesehen. Was immer noch genug ist, um Mira Sorvino als polymorphe Verführerin zu feiern. In der Rolle der berechnenden Apasia erstreckt sich ihre Erotomanie auf alle Geschlechter und Altersklassen, wobei die verbale Promiskuität des 18. Jahrhunderts durchaus aufregender ist als die drastischen Vögeleien, denen man auf diesem Festival in fast jedem zweiten Film begegnet. In Marivaux’ Stück kämpft die Ratio gegen das Gefühl, die Logik gegen die Lust, die Sublimierung gegen den Sex, und dazwischen kämpft Mira in Männerkleidung um die Liebe eines jungen Mannes, dessen Hintern sie einmal beim Baden im Wald erspäht hat. Clare Peploe (deren größtes Verdienst für die italienische Presse übrigens darin zu bestehen scheint, dass sie mit Bernardo Bertolucci verheiratet ist) hat Marivaux’ Verführungsdiskurs in einem Park verfilmt, dessen wuchernde, leicht herbstliche Vegetation dem Gefühlstheater eine leichte Melancholie verleiht. Ihre Heldin ist ein forsches Girlie, das jetzt hier alles will und der Aufklärung eine ganz eigene wilde Emanzipationsgeschichte abgewinnt. Mighty Aphrodite goes 18th century und Mighty Mira sollte dafür mindestens den Darstellerpreis bekommen.

Über ihre Anfänge hat mir ein befreundeter Kamermann eine schöne Geschichte erzählt. Als Sorvino Anfang der 90er mit Woody Allens sexualisiertem Aphroditen-Film zum ersten Mal als völlig unbekannte Schauspielerin in Venedig war, saß sie am Abend vor der Vorführung alleine in der Bar des Hotel Excelsior, und der Kameramann kam mit ihr ins Gespräch. Sorvino erzählte von der Technik ihrer künstlichen Quietschstimme, von Allens Marotte, so wenig wie möglich mit seinen Darstellern zu sprechen, von ihrem Vater Paul und von ihrem Sinologiestudium, das sie eigentlich viel mehr interessiere als die Schauspielerei. Die beiden tranken noch ein wenig über den Durst und verabschiedeten sich. Am nächsten Tag wurde „Mighty Aphrodite“ auf dem Lido gezeigt und seitdem saß Sorvino wahrscheinlich nie mehr ohne Presseagent in irgendeiner Bar irgendeines Festivals.

Natürlich haben sich die Zeiten sowieso geändert. Inzwischen hat sogar der Nebendarsteller des nicht besonders aufregenden philippinischen Films „Larger than Life“ einen Presseagenten. Sogar manche Presseagenten haben Presseagenten, und in ein paar Jahre werden nur noch Presseagenten zu solchen Festivals fahren. An leibhaftigen Filmmenschen habe ich in der Bar vom Excelsior bisher ohnehin nur Werner Herzog gesehen. Ganz allein und ohne Presseagent blickte er zwischen zwei Interviews traurig in seinen Kaffee.

KATJA NICODEMUS

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen