: Leben in Bombay
■ Neu im Kino „Megacities“ von Michael Glaswogger
Wovon lebt man, wenn man zu den Ärmsten unter Millionen zählt? In den Elendsvierteln der riesigen, aufgeblähten Millionenstädte Bombay, Mexico City, Moskau und New York sind heute ganz neue Überlebensstrategien gefragt. Arbeit gibt es nicht, man muß sich seinen Job selbst erfinden. Winzige Marktlücken müssen aufgespürt und bedient werden, auch in den Slums kann man sich über Wasser halten, wenn man den Menschen dort billige Träume oder Suppe verkauft. Shankar etwa, der Bioskopmann, sammelt in den Projektionsräumen der Kinos von Bombay herausgeschnittene Filmschnipsel auf, näht sie mit Nadel und Faden zusammen und zeigt diese Kurzversionen von Hollywoodromanzen den Kindern auf der Straße in einem Guckkasten für ein paar Rupies.
Modesto kocht in Mexiko-City eine leckere Suppe aus Hühnerfüßen, für viele in seiner Nachbarschaft das einzige Fleisch, das sie sich leisten können. Toni, der Hustler, verkauft in New York „Air Pussys“: Er macht für Freier Treffen mit willigen Nackttänzerinnen aus, gibt ihnen deren Adressen, kassiert ein paar Dollar Provision, und wenn die Kunden merken, dass es diese Mädchen gar nicht gibt, ist er längst weg.
Der Österreicher Michael Glawogger schaut in seinem Dokumentarfilm nie auf diese Menschen herab, und dies ist auch kein Film, in dem das Elend der Welt beklagt wird. Um so verstörender aber, dass er dieses Elend dennoch zeigt. „Megacities“ ist ein seltsamer Film. Auf der einen Seite zeigt er uns diese Überlebenskünstler und begleitet sie bei ihrem Tagewerk. Mit Wolfgang Thaler hatte er einen sehr guten Kameramann, bei dessen durchweg brillant komponierten Bilden, man sich oft nicht entscheiden kann, wann genau das Schöne sich in das Hässliche verwandelt und umgekehrt.
So sieht man etwa den indischen Farbensieber Babu Khan über und über bedeckt mit den strahlend leuchtenden Farbpartikeln, die er durch ein Sieb schüttet. Einerseits ein wunderschönes, überraschendes Bild, andererseits arbeitet er ohne jeden Mundschutz und man spürt förmlich, wie diese Farben ihm die Lungen zerstören.
Oder die Kamera begleitet Nestor den Müllsammler und zeigt plötzlich eine nebelverhangene Traumlandschaft, in der einsam ein weißes Pferd umherirrt. Auch solche surrealen Bilder kann man auf einem stinkenden Müllberg aufnehmen.
Andererseits zeigt uns Glawogger quälend lange, wie Hühner mit durchgeschnittenen Kehlen noch minutenlang in einem blutigen Blechtrog weiterzappeln, oder wie die mexikanische „Tänzerin“ Lola Lopez in einer schmierigen Kaschemme von den Gästen an den Geschlechtsteilen begrabscht wird.
Der Film führt uns so oft näher an dieses Leben heran, als es uns lieb ist. Aber dadurch vermeidet Glawogger die Falle des leicht konsumierbaren und letzlich doch Romantisierenden Exotischen. Und so wie er keine Angst davor hat, das Hässliche zu zeigen, so traut er sich auch formal einiges. Denn in diesem „Dokumentarfilm“ hat er fast jede Einstellung inszeniert. So folgte er nicht nur den Protagonisten bei ihrer Arbeit, sie durften sich auch selber spielen. Den Hustler Toni ließ er seine Betrugsmasche mit einem Schauspieler nachspielen, in einer Sequenz hat er seinen Film so bearbeitet, als sei er ein Schnipsel in dem Kasten des Bioskopmannes, und immer wieder erzählen die Menschen direkt in die Kamera, wie sie sich ein besseres Leben erträumen.
Oft ist deshalb „Megacities“ ein verspielter Film, der zugleich die Fantasie der Akteure und des Filmemachers feiert. Gleich darauf zeigt er allerdings Bilder aus einer Ausnüchterungszelle in Moskau, die wie die Hölle auf Erden wirkt.
Wilfried Hippen
„Megacities“ läuft in der Originalfassung mit Untertiteln von heute bis Sonntag um 20.30 Uhr sowie am Mo. & Di. um 18.30 Uhr im Kino 46
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen