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Magische Viertelnachacht

Von heute an beginnt die Sat.1-Sportsendung „ran“ wieder vor der „Tagesschau“, das Experiment mit der Familienshow nach 20.15 Uhr ist gescheitert. Eine Betrachtung über eine anthropologische Konstante in Deutschland

von STEFFEN GRIMBERG

Zwei Tage vor Nikolaus, am 4. Dezember 1995, sollte die gute, alte Fernsehwelt aus den Angeln gehoben werden: Sat.1 wollte endlich nach vorn. Dessen seit kurzem amtierender Programmgeschäftsführer Fred Kogel wollte bis 1997 die Marktführerschaft unter Deutschlands TV-Kanälen. Und zu diesem Zweck proklamierte Kogel auch das Ende der Fernsehzeit, wie sie bis dahin alle gewohnt waren.

Nicht länger um 20.15 Uhr solle das Hauptprogramm beginnen, nicht mehr die „Tagesschau“ den TV-Abend einläuten. Sondern zur „Nullzeit“ (Kogel): Sendungsbeginn zu jeder vollen Stunde. Natürlich mit Unterhaltung, nicht etwa mit Nachrichten. Die neue Sat.1-Zeit setzte auf 20 Uhr. Eine riskante Operation, aber Sat.1 hatte keine Wahl, denn der Sender lag im Rennen um Quoten hoffnungslos hinter ARD, RTL, ZDF und sogar den Dritten Programmen zurück. Mitte Januar 1996 folgten auch ProSieben und Kabel 1 dem kühnen Schritt Kogels: Deutsche Abendriten – na und?

Das Experiment endete in einem Fiasko. Allein bei Sat.1 kostete es im Durchschnitt eine Million Zuschauer. ProSieben und Kabel 1 kehrten rasch zum alten Programmschema zurück, Sat.1 hielt noch einige Wochen aus, allein schon, um nicht so offenkundig als Verlierer im Senderkampf dazustehen. Aber dann begann der Fernsehabend auch dort wieder, wo er gut vierzig Jahre zuvor, am 1. Oktober 1956 angefangen hatte: nach der „Tagesschau“.

Seit diesem Tag wird aus Hamburg das „Pahm-Pam, Pam-Pam-Pam-Pahm“ gesendet, inzwischen täglich. (Damals herrschte sonntags noch Nachrichtenpause, Kirchens sei Dank, was aber nichts machte, denn auch der „Tatort“ war noch nicht erfunden.)

Die „Tagesschau“ aber war nicht mehr aufzuhalten. Dabei hatte sie seit der Neueröffnung des TV-Programmdienstes in Deutschland eher ein bescheidenes Dasein als Zweitverwerter von Wochenschaumaterial geführt. Weniger als zehntausend Zuschauer konnten den Sendestart am Ersten Weihnachtstag 1952 zur „Nullzeit“ 20 Uhr im Gebiet des Nordwestdeutschen Rundfunks miterleben, um 22 Uhr war schon wieder (Sende-)Schluss. Die Mehrheit der Bevölkerung folgte verfilmten Nachrichten noch viele Jahre nur im Vorprogramm der Kinos.

Doch die „Institution Tagesschau“, wie Ulrich Reinhardt vom BAT-Freizeitforschungsinstitut sagt, war etabliert: „Alles wird daran gemessen.“ Rund 93 Prozent der Bevölkerung kennen die „Tagesschau“, so als Markenzeichen akzeptiert sind ansonsten nur Persil und Coca-Cola. „Um 20 Uhr“, erinnert sich Reinhardt an die eigene Jugend, „wurde nicht telefoniert oder gegessen“ – Nachrichtenaufnahme als Zäsur des Tages.

Nur: Weshalb abends um acht? Die Antwort ist einigermaßen simpel: „20 Uhr ist und war die magische Grenze“, sagt Freizeitforscher Reinhardt: Nach der Ankunft des Vaters von der Arbeit ging man zu Tisch, danach wurde noch etwas Zeit im Kreis der Familie verbracht, und spätestens bis 20 Uhr hatten die Kinder im Bett zu sein. Diese Zubettgehzeit sei bei jüngeren Kindern – etwa bis zur Pubertät – bis heute auffallend konstant geblieben. Erst später weichten die Traditionen auf, wenn auch nicht allzu drastisch: Ende der Neunzigerjahre begann das Zubettgehen bei älteren Kindern um durchschnittlich 37 Minuten später als in den Siebzigern. „Die Tagesschau war nie eine Familiensendung, sondern eher für die Eltern“, so Reinhardt.

Aber schon in prätelevisionären Zeiten hatte sich die 20-Uhr-Schwelle etabliert. In den so genannten besseren Kreisen zumindest, die nicht so sehr auf Tageslicht zur Verrichtung ihrer Arbeit angewiesen waren oder mit dem ersten Sonnenstrahl wieder auf dem Acker stehen mussten: Als Beginn von Theater- und Konzertaufführungen, Bällen und Soupers war der Glockenschlag zur dritten Abendstunde sogar fast ein wenig zu früh, um einen kinderfreien Abend genießen zu können. Zumindest in katholischen Landstrichen musste man schließlich noch vorher in die Messe und sich danach auch noch umkleiden.

Als das Kino, Anfang der Fünfzigerjahre, nach und nach zum erschwinglichen Vergnügen breiterer Kreise avancierte, stellte sich als abendlicher Einheitsbeginn schnell 20 Uhr als günstigster Termin heraus. In den Lichspielhäusern wurde obendrein ein Ritual eingeschliffen, das sich später nahtlos auf das neue Medium Fernsehen übertragen ließ: Vor der Unterhaltung (dem Hauptfilm) kamen die Nachrichten in Gestalt der Wochenschauen.

Gegen die Logik, das TV-Hauptprogramm erst um 20.15 Uhr zu beginnen, sprach auch nicht, dass Radionachrichten meist „um voll“ kamen – selbst wenn sie bei manchen Sendern nur noch aus drei Sätzen plus Wetterbericht nebst Verkehrshinweisen bestehen. Erst danach geht es weiter mit Unterhaltung: Radio ist ein Medium en passent, kein zentrales wie das Fernsehen.

Doch Fred Kogel hielt selbst noch kurz vor Ende der Zeitverschiebung von Sat.1-Gnaden an seinem Konzept fest: „Ich bin noch heute der festen Überzeugung, dass letzlich die Nullzeit der richtige Schritt ist. Die Philosophie der klaren Startzeiten ist bestechend.“

Deutschland – ein Sonderfall. Nicht nur in den USA funktioniert die Vollstundenwelt, auch in der Schweiz oder Schweden hätte Fred Kogel sein Sat.1 um 20 Uhr beginnen können. Aber dort gibt es auch keine „Tagesschau“. BAT-Mann Ulrich Reinhard: „Natürlich hat es diverse Versuche gegeben, dieses für Programmplaner viel angenehmere Modell zu übernehmen.“

Die Einführung des zunächst heftig auf US-Erfahrungen und US-Programmware aufbauenden Privatfernsehens in Deutschland ab 1984 änderte hier gar nichts: Gemäß der Devise, dass der Wurm schließlich dem Fisch zu schmecken habe und nicht dem Angler (RTL-Geschäftsführer Helmut Thoma), versuchte RTL als stärkster werbefinanzierter Kanal erst gar nicht, die „Tagesschau“-Gemeinde durch Abweichen vom 20.15 Uhr-Dogma auszusperren.

Selbst das Pay-TV muss sich den tradierten Zuschauergewohnheiten beugen. Kirchs Pay-TV-Plattform Premiere World setzt nach vergeblichen Erziehungsversuchen wieder ganz überwiegend auf Starttermine ab 20.15 oder 20.30 Uhr, um es sich nicht mit den „Tagesschau“-Getreuen unter den Abonnenten zu vergrätzen. Und beschert so dem Retortenprogramm zum Teil durchaus innovative Einsprengsel wie das mittlerweile legendäre „Zapping“, die die Zeit bis 20.15 Uhr überbrücken.

Wenn überhaupt, hätte höchstens das ZDF noch eine Chance gehabt, den durch die „Tagesschau“ quasi grundgesetzlich bei 20.15 Uhr verankerten Beginn des nachfolgenden Abendprogramms zu kippen. Doch das war 1963. Und ging – wie über dreißig Jahre später die Vorstöße von Sat.1, ProSieben und Kabel 1 – schief: Um 19.50 Uhr, so der Planungsstand von 1962, wollte das damals noch gar nicht sendende „Zweite Deutsche Fernsehen“ seine Nachrichtensendung plazieren.

„Heute“ wanderte schließlich auf den Sendeplatz 19.30 Uhr (und blieb dort bis 1975). Das Hauptprogramm begann beim „Zweiten“ tatsächlich an einigen Tagen bereits um 20 Uhr. Das Ergebnis war wenig spektakulär: Viele kamen erst verspätet ins ZDF-Programm, eben nach Konsum der „Tagesschau“.

Der „Heute“-Termin um 19.30 Uhr weckte dagegen bei der ARD Appetit, von der 20 Uhr-Marke abzurücken. Doch das „Erste“ vertraute doch darauf, dass es „mit dem Gongschlag der Tagesschau um 20 Uhr bereits Lebensgewohnheiten geschaffen hatte, von denen sie hoffte, sie würden sich als stärker erweisen“ – so der ehemalige ARD-Vorsitzende und Intendant des Süddeutschen Rundfunks, Hans Bausch.

Das Vertrauen zahlte sich aus: Zwar ist die „Tagesschau“ nicht mehr der Quotengarant früherer Jahre, doch sie erfüllt wie eh und je ihre Funktion als Zeitsignal im deutschen Fernsehen – so wurde 20.15 Uhr zur anthropologischen (Zeit-)Konstante in Deutschland.

Dass immer mal wieder ein großer Teil der „Tagesschau“-Zuschauer selbst bei Befragung unmittelbar nach der Sendung kaum noch erinnern kann, worüber eben gerade berichtet wurde, spielt übrigens gar keine Rolle. Vielleicht war die Hauptaufgabe der Hauptnachrichtensendung in Wahrheit ja nie Informationsvermittlung, sondern eben die Rolle als Standuhr des deutsche Fernsehens: Erst wenn sie geschlagen hat, kann es richtig losgehen.

Genauso konstant wie der Beginn des Hauptprogramms im deutschen Fernsehen ist übrigens auch sein jähes Ende: Keine Zuschauerkurve einer europäischen TV-Nation – von der isländischen mal abgesehen – sackt nach 22 Uhr so gleichmäßig rasant ab wie die deutsche. In diesem Sinne nun die Wettervorhersage für Morgen, Sonntag, den 9. September . . .

STEFFEN GRIMBERG, 33, taz-Medienredakteur, lebt in Berlin und lässt sich traditionell seine Abende durch die „Tagesschau“ strukturieren

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