: Ungemütliche Maschinen
Geht es nach den Plänen amerikanischer Stadionarchitekten, wird selbst die neue Schalke-Arena bald nur noch ein antik anmutender Fußballort sein. Ausblicke in eine voll computerisierte Zukunft
von RENÉ MARTENS
„Der Verein – das ist für mich das Stadion. Spieler und Trainer kommen und gehen, alles ändert sich, aber das nicht. Zum Stadion kannst du eine Beziehung aufbauen.“ Dieses Statement des britischen Schriftstellers Nick Hornby ist sympathisch, aber es stimmt nur noch zum Teil. Zahlreiche Arenen werden bis zur Unkenntlichkeit renoviert oder der Einfachheit halber gleich gesprengt – wie Anfang August das Wankdorfstadion in Bern, wo die Auswahlmannschaft des DFB 1954 Weltmeister wurde.
Manche Fußballanhänger empfinden solche Maßnahmen als ähnlich schlimm wie einen Brand, der die Wohnungseinrichtung vernichtet. Schließlich, sagt Simon Inglis, der Autor des Standardwerks „The Football Grounds of Britain“, ist das Stadion für viele Fans „der Ort, wo sie sich am häufigsten aufhalten – von der Wohnung und dem Arbeitsplatz mal abgesehen“.
Seit den ausgehenden Neunzigerjahren werden viele der Stadien, zu denen man im Sinne Hornbys „eine Beziehung aufbauen“ konnte, durch Multifunktionskomplexe (Fußballfeld und Zuschauerränge plus Einkaufszentren, Kinos oder Kongressräume) ersetzt. Als zweites Wohnzimmer taugen die neuen Arenen kaum, dafür sind sie mit jeder Menge technischem Schnickschnack ausgerüstet, der den ewigen Bastler im Sportfan ins Träumen geraten lässt.
Die Betreiber solcher Gebäude betonen gern, dass es zum Beispiel kein Problem sei, die Kapazität innerhalb kurzer Zeit auf fünftausend Plätze zu reduzieren, wie etwa bei der Saitama Arena nahe Tokio, die maximal 37.000 Zuschauer fasst. Oder dass der Rasen aus einer Schublade kommt und das Bier aus einem fünf Kilometer umfassenden Pipelinesystem wie bei der neuen Sportanlage von Schalke 04.
Obwohl solche Stadien die Art, wie Fußball rezipiert und emotional empfunden wird, schon radikal verändert haben: In den kommenden zehn Jahren stehen noch einschneidendere Veränderungen bevor – zumindest wenn man die fortschreitende Technologisierung und Digitalisierung einiger amerikanischer Sportarenen zugrunde legt.
Diese derart aufgerüsteten Veranstaltungsorte verfügen über Sitzplätze, die mit Minicomputern ausgestattet sind. Hiermit kann der Stadionbesucher Statistiken, Zeitlupen aus verschiedenen Blickwinkeln oder die Resultate anderer Spiele abrufen. Der Fan mutiert so zur zappenden Sofakartoffel.
Kommunikationstechnisch für Sportarenen führend ist die US-Firma ChoiceSeat Inc., die derzeit schon die Fans verschiedener Profisportteams aus New York, Boston und Tampa während eines Heimspiels mit Daten füttert. Und ab Anfang September, mit Beginn der neuen Saison, tritt das Unternehmen für sämtliche Clubs der National Football League (NFL) als Provider „personalisierter, interaktiver Multimediasysteme“ in Erscheinung.
Die Informationen liefert man den Zuschauern über einen Touchscreen – einen Bildschirm, auf dem Informationen mit Fingerbefehlen abgerufen werden können –, der in die Kopfstütze des davor angebrachten Sitzes eingelassen ist. „Smart Seat“ heißt das Produkt. Andrew Heimbold, Creative Director bei der für das Design zuständigen Firma Reality Check, betont, die Entwickler hätten die diversen Interessen der Nutzer berücksichtigt: „Einer wird wissen wollen, was eine bestimmte Regel bedeutet; der kann den Regelbuchknopf berühren. Ein anderer wird vornehmlich an Statistiken interessiert sein.“
Was Heimbold über Smart Seat sagt, klingt manchmal unfreiwillig komisch: „Es gibt einen Team Icon in der linken oberen Ecke, der sich dreht, um dem User anzudeuten, dass etwas Interessantes passiert ist, zum Beispiel ein Penalty gegeben wurde. Die Bewegung weckt die Aufmerksamkeit des Users, der in einen anderen Bereich vertieft ist, und wenn man den Icon anklickt, werden sofort die Bilder vom Penalty aufgerufen.“ Kann man nicht einfach auch aufs Spielfeld schauen?
Wird der Nutzer von „Smart Seat“ so sehr auf seinen Touchscreen fixiert sein, dass er nicht mehr wahrnimmt, was um ihn herum passiert? Zauberlehrlinge wie Heimbold suggerieren dem Zuschauer: Du hast das Spiel und den Rest der Welt am Draht, mach dir den Sport, wie er dir gefällt. Der Creative Director fügt hinzu, es könnten auch Spielpläne sowie biografische Informationen zu den Akteuren abgerufen werden, aktuelle Ergebnisse von anderen Spielen, auch aus anderen Sportarten – nebst Statistiken, versteht sich.
Wer aber braucht solche Daten während des Spiels? Wie wirkt sich die Technik aus auf die Kommunikation mit anderen Fans, die ja in den Stadien, wie Nick Hornby und wir sie kannten, mal wichtig gewesen war? Wer ständig Informationen abruft und sich auf dem Bildschirm eine ganz eigene Version des Spiels zurechtbastelt, wird kaum noch emotional auf das Spiel reagieren.
Rein Jansma von der Firma Hok & Lobb, die das Olympiastadion in Sydney gebaut hat, geht davon aus, dass es mit einer Art Stadion-TED „möglich sein wird, den Spieler zu nominieren, den man ausgewechselt sehen möchte“. Das wäre „ein Anreiz, zum Spiel zu gehen“, glaubt er. Vorstellbar sei auch die Wahl zum Spieler des Tages, verknüpft mit diversen Gewinnmöglichkeiten.
Ed Horton schrieb noch 1997 in „Moving The Goalposts“, einem Buch über „die Ausbeutung des Fußballs“: „Der ganze Sinn des Liveerlebnisses Fußball besteht doch eigentlich darin, dass es sich vom Fußball im Fernsehen unterscheidet.“ Das klingt heute fast wie ein Ruf aus einer versunkenen Welt. Als wichtigster Bestandteil des Produkts Smart Seat dürfte sich die Bildschirmoption „Concessions“ entpuppen, dank deren man Speisen, Getränke und Merchandisingartikel kaufen kann, ohne den Platz verlassen zu müssen. Einfach auf der rechten Seite des Bildschirms die Kreditkarte anschlagen, und prompt kommt die Bestellung.
Auch die Anbieter von Sportwetten dürften sich diese Technik zunutze machen. In einer Studie, in der Medienunternehmen empfohlen wird, verstärkt in den Sport zu investieren, betont die Unternehmensberatungsfirma Pricewaterhouse Coopers, welch wichtiger Faktor solche interaktiven Wetten in entsprechenden Konzepten seien. Kein Wunder, wenn man bedenkt, dass die Wettagentur der französischen TV-Sender Canal Plus und TPS in den ersten anderthalb Monaten ihrer Existenz 47,7 Millionen Euro einnahm. „Sobald man einen Sportevent digitalisieren kann, erlangt er eine ganz andere Form“, sagt Rob Sheard vom Marktführer Hok & Lobb.
Er bezieht sich dabei auf die Möglichkeit, allen Spielern – und dem Ball – drahtlose Sensoren zu verpassen, so dass es für Zuschauer im Stadion wie auch am heimischen TV-Bildschirm möglich ist, das Spiel aus allerlei unsinnigen Perspektiven zu verfolgen. „Man wird wissen, wie oft ein bestimmter Spieler übers Feld gerannt ist, wie oft er eher nach links denn nach rechts gelaufen ist“, jubelt Sheard. Möglicherweise, frotzelt Jochen Becker, Herausgeber eines Sammelbandes zur „Kritik der unternehmerischen Stadt“, sehe „das Bild aus wie bei n-tv“ – in Anspielung auf die Börsenkurse, die der Nachrichtensender während der gewöhnlichen Berichterstattung durchs Bild laufen lässt.
Die Technologisierung macht auch vor anderen Bereichen nicht Halt. In der Amsterdam Arena, vor fünf Jahren eröffnet und trotz horrender Verluste immer noch ein Vorbild für neue Stadionbauten, beeinflusst die Stadionregie zum Beispiel, wie die VIP-Gäste den Event wahrnehmen. Wenn die Hardcorefans besonders gut drauf sind, wird die Lautstärke in den Lounges hochgedreht, sind dagegen rassistische Schmähgesänge zu hören, wird sie merklich reduziert. Das beschreibt Camiel van Winkel im Katalog zur Rotterdamer Ausstellung „Architektur des Massensports“. In einer rasssistischen Atmosphäre mögen viele Wirtschaftsvertreter halt keine geschäftlichen Gespräche führen.
Ein Politikum ist auch die Art, wie im Januar vor dem Super-Bowl-Spiel in Tampa die Eingangskontrollen durchgeführt wurden. Mit Hilfe des Erkennungssystems „FaceTrac“ wurden die Gesichter von rund hunderttausend Zuschauern erfasst; die auf diese Weise gewonnenen Informationen wurden sogleich mit den Datenbanken von Polizei und anderen Behörden abgeglichen.
Pat Bernstein von der britischen Firma DataFactor schwärmt jetzt schon von Geräten, die den Stadiongast mittels Fingerabdrucks identifizieren: „Jeder unerlaubte Zutritt hat zur Folge, dass ein Bild des Übeltäters sowie sein aktueller Aufenthaltsort an den Sicherheitsdienst übermittelt werden.“ Wie der theoretische Überbau zukünftiger Um- und Neubauten aussieht – das bringt am besten Bob Lang von Over Arup & Partner, einer im Stadionbau aktiven Ingenieurfirma, zum Ausdruck: „Ein Stadion ist ein höchst ingenieurbezogenes Objekt“, sagt er. „Es ist eher verwandt mit einer Maschine als mit klassischen Gebäuden.“
RENÉ MARTENS, 37, lebt als freier Autor in Hamburg und schreibt über Themen aus den Bereichen Popkultur, Medien und Fußball
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