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Der grausame Befreier

Heute sind sich die Chinesen einig: Mao hatte beide Seiten – die gute und die böse

von GEORG BLUME

Den hundertsten Geburtstag des Großen Steuermanns vor acht Jahren feierten die Chinesen mit viel Revolutionsmusik und Mao-Kitsch. Seither gibt es Feuerzeuge mit Mao-Porträt, die mit jeder Stichflamme entweder „Happy Birthday“ oder „Der Osten ist rot“ pfeifen. Doch was gibt es Neues zu Maos 25. Todestag?

Offenbar wollen die Chinesen den morgigen Sonntag nicht feiern. Dabei hätten sie allen Grund dazu: Zum ersten Mal hat ihr Land ein Vierteljahrhundert ohne gottähnlichen Führer weitgehend friedlich hinter sich gebracht – und der lange Verzicht auf Kaiser und Mao hat noch nicht zu Rufen nach einem neuen starken Mann geführt. Das allein könnte ein Grund zum Jubeln sein.

Die chinesische Jugend gibt sich längst nicht mehr führerfixiert. „Mao war ein Verrückter. Die Dinge, die er getan hat, kann nur ein Idiot gemacht haben“, sagt der 18-jährige Punker Guo Guoseng, während er abwechselnd an einem Joint zieht, Weingummi kaut und Pepsi schlürft. Guo hat sich erst die Haare blau gefärbt, dann die Schule abgebrochen und neuerdings einen kleinen Skateboard-Laden im Norden Pekings eröffnet. Mao sei für seine Generation einfach nicht mehr wichtig, meint Guo, während er vorsichtig ein Stück Weingummi von seinem Zungenpiercing löst.

Die 22-jährige Zhang Hua stimmt zu. „Mao hat für mich etwas mit Schule zu tun, sonst nichts“, meint die Pekinger Bankangestellte, die bauchfrei und mit Hightech-Kopfhörern zur Arbeitsstelle eilt. Für Zhang sind chinesische Politiker uninteressant. „Wenn schon, schaue ich auf Ausländer. Bill Clinton zum Beispiel gefiel mir“, meint sie.

So frech und vorwitzig redet Chinas Großstadtjugend über den roten Kaiser daher, dass sie sich gar nicht vorstellen kann, auf welche Empörung ihre schnoddrigen Mao-Urteile im Westen stoßen würden.

Dort wird eine politische Korrektheit verlangt, die man in China nicht kennt: Mao als Verbrecher und Massenmörder, als das Böse schlechthin. Als einen der „drei großen Diktatoren des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet ihn die Frankfurter Allgemeine. Schonungslos urteilt der amerikanische Mao-Biograph Jonathan Spence: „Mao Tse-tung ist einer der brutalsten und befremdlichsten Führer Chinas gewesen, der seine außerordentliche Machtfülle weder klug noch gut nutzte, aber es über Jahrzehnte verstand, jegliche Kritik durch Polizeigewalt zum Schweigen zu bringen.“ Fast jede Neuigkeit, die Wissenschaftler über Mao zu Tage fördern, verbucht neue Opfer auf dem Konto des Großen Vorsitzenden.

Das dient der historischen Wahrheitsfindung – und vertieft doch gleichzeitig den Graben zwischen China und dem Westen: Während das westliche Mao-Bild immer einheitlicher wird, erfährt das chinesische Mao-Bild derzeit eine Differenzierung.

„Für die Chinesen über dreißig bleibt Mao die größte Persönlichkeit ihrer eigenen Geschichte“, beobachtet der Schriftsteller Mo Yan. In seinen Welterfolgen „Das rote Kornfeld“ und „Die Knoblauchrevolte“ hat er das Elend der chinesischen Landbevölkerung vor und nach der maoistischen Revolution beschrieben.

Dem Vierzigjährigen wurde in der Jugend noch das maoistische Gleichheitsideal überliefert. Nach Maos Tod und dem Ende der Kulturrevolution konnte seine Generation aber studieren und einen individuellen Lebensweg verfolgen. So weiß Mo selbstverständlich von den Millionen Todesopfern, die Maos Politik verursachte. Als Dorfkind, das in Armut aufwuchs, behält er trotzdem auch faszinierende Erinnerungen: „Es herrschte ein unbeschreiblicher materieller Mangel und zugleich eine unbeschreiblich romantische Atmosphäre.“

Härter urteilen ältere Intellektuelle zwischen 50 und 60. Zahlreiche Professoren, die vor Beginn der Kulturrevoluton im Jahr 1966 bereits ihre Studien begonnen hatten und dann unter härtesten Bedingungen auf dem Land arbeiten mussten, können mit Mao bis heute nur Tyrannei und Rückschritt verbinden. Sie waren begeistert, als sich Deng Xiaoping 1978 als Nachfolger durchsetzte und mit dem Abriss der meisten Mao-Statuen auch das Ende des quasireligiösen Mao-Kults verfügte.

Nicht einverstanden waren sie allerdings mit dem milden Urteil, das Deng schließlich über den Tyrannen fällte: 70 Prozent seiner Arbeit sei verdienstvoll gewesen und dreißig Prozent fehlerhaft. Doch über die Prozentzahlen konnte von nun an offen diskutiert werden. Und in einem waren sich auch die schärfsten Kritiker mit Deng einig: Mao hatte beide Seiten – die gute und die böse.

Der Pekinger Autor Wang Xiaodong, Kind einer berühmten Intellektuellenfamilie, zählte einst zu den besten Schülern des ganzen Landes. Dann rief Mao die Kulturrevolution aus – und mit ihr den Kampf gegen die privilegierte Klasse der Intellektuellen. „Ich musste aufs Land und war furchtbar unglücklich“, erinnert sich Wang. Bis heute fühlt sich der Nichtakademiker zurückgesetzt, obwohl er inzwischen als einer der radikalsten Internet-Autoren des Landes hohes Ansehen genießt. Aber eines räumt auch der Außenseiter ein: „Mao hat das alte China von Chaos und Finsternis befreit und das Land vereint.“

Fast alle Chinesen erkennen das Heldentum des Republikgründers an, der das große Reich von korrupten Generälen und fremden Mächten befreite. Ohne ihn wäre das Land womöglich nie unabhängig geworden. Er hatte den Willen, gegen die brutale Kuomintang-Regierung, die verhasste japanische Kolonialmacht und die gefürchteten Westmächte gleichzeitig aufzubegehren. Er führte die Kommunisten durch die Qualen des Langen Marsches und gab auch mit einem kleinen Häuflein ermatteter Bergpartisanen nicht auf.

Diese Gründungsgeschichte der Republik erscheint umso heldenhafter, je reicher und erfolgreicher die Volksrepublik heute ist. Nie zuvor in der Geschichte der Menschheit ist der Lebensstandard so vieler Menschen in so kurzer Zeit so angestiegen wie in China seit Maos Tod. „Gerade die einfachen Menschen, die unter Mao Hunger und Schmerzen erlitten haben, wollen ihm nicht allzu viel vorwerfen“, sagt Bestsellerautor Mo Yan. „Er war der erste chinesische Führer, der ihnen Lesen und Schreiben lehrte und sie als Bauern und Arbeiter überhaupt ansprach. Heute, da es ihnen materiell besser geht, versuchen sie deshalb, seine Fehler nachzuvollziehen.“

Genau dagegen wehrt sich die westliche Geschichtsschreibung. So versucht Jean-Louis Margolin im „Schwarzbuch des Kommunismus“ den Nachweis zu erbringen, dass Mao schon als junger Partisan in den südchinesischen Bergen nichts anderes als Terror im Sinn hatte. Ausführlich beschreibt er die „gemeinen, schändlichen Formen der Kritik und Selbstkritik“, die Mao im Guerillakrieg erfand, und spricht von seiner „rachsüchtigen Mordlust“.

Historisch widerlegen lassen sich diese Aussagen nicht. Doch von den Chinesen zu verlangen, Mao nur noch seiner Verbrechen zu bezichtigen – das wäre, als sollten die Juden Moses verleugnen. Bis hin zu einzelnen Metaphern ähneln sich die Legenden der beiden Männer, die ihr Volk aus der Fremdherrschaft führen: Eine Wasserschlucht im Roten Meer führte Moses nach Sinai, eine Hängebrücke in den Bergen Sichuans führte Mao nach Yanan.

Auch das Aufkeimen einer chinesischen Globalisierungskritik trägt zur Rehabilitierung Maos bei. „Wir kennen jetzt beide Extreme: den Maoismus der Kulturrevolution mit seiner rücksichtslosen Gleichmacherei und den Raubtierkapitalismus, wie er heute mit der Globalisierung in China einzieht“, sagt der Pekinger Dramatiker Huang Jisu. Huang zählt sich zur chinesischen „Neuen Linken“, die sich mit der wachsenden Kluft zwischen Arm und Reich nicht abfinden will. Sein jüngstes Erfolgsstück, das in Peking 60-mal aufgeführt wurde, trug den provokativen Titel „Che Guevara“.

Von Che aber ist der Weg zu Mao nicht weit. „Unter Mao waren Erziehung und Krankenwesen kostenlos und Sport eine Betätigung für alle“, bilanziert Huang. „Heute kostet der Schulbesuch Geld, die Krankenhausgebühren sind für die Massen zu hoch, und Sport gibt es nur noch im Fernsehen.“ Für den einflussreichen Theatermann steht fest: Um die Mühen der Modernisierung zu bewältigen, braucht die Volksrepublik eine neue Utopie.

Warum aber ist eine solche Haltung nur 25 Jahre nach dem Tode Maos in China wieder möglich? Weil sich der Maoismus eben doch nicht mit Faschismus oder Stalinismus gleichsetzen lässt. Befreiung von der Tyrannei und neue Tyrannei lassen sich im Gedenken an Mao nicht voneinander trennen.

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