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Entfremdung im Wohlstandsgebirge

Bloß nicht mehr verarschen lassen: Bei den Filmfestspielen in Venedig ging der Trend hin zu einem neuen politischen Kino. Ken Loach setzt auf die nächste Generation. Die preisgekürte Regisseurin Mira Nair verbindet Megaromantik mit Dokuszenen

von KATJA NICODEMUS

Ken Loach wirkt erschöpft, aber nicht müde. Er lächelt ein bisschen in sich hinein und scheint immer noch glücklich über das 5:1 im Spiel England gegen Deutschland. „A beautiful game, wasn’t it?“

Der Mann, der dreißig Jahre British Cinema verkörpert, sieht in seinem karierten kurzärmeligen Hemd aus wie ein zerstreuter Bibliothekar, der am Lido Urlaub macht. In Venedig lief sein Film „The Navigators“, der einer Brigade britischer Gleisarbeiter in die Privatisierung folgt. Ein klarer, kleiner Film, der sagt, was Sache ist. „The Navigators“ zeigt, wie die hohen Sicherheitsstandards der staatseigenen British Rail zwischen den Preiskämpfen unqualifizierter Subunternehmen zerschreddert werden. Und wie die Verantwortung schließlich beim schwächsten Glied der ökonomischen Kette landet: dem Gleisarbeiter, der innerhalb von Sekunden entscheiden muss, ob er einen Zug sicherheitshalber anhält oder kostensparend weiterfahren lässt. Wobei zu viel Vorsicht den Job kostet. „Privatisierung kann durchaus ein Verbrechen sein“, sagt Loach und lächelt noch einmal.

Ken Loach hat seinen ersten Film Ende der Sechzigerjahre gedreht und seitdem nicht aufgehört, sich mit einer Lebenswirklichkeit zu befassen, die am anderen Ende der politschen Entscheidungen und Handelsblatt-Terminologien steht. Flexibilisierung der Arbeitszeit bedeutet in „The Navigators“ beispielsweise, dass ein Mann, der seine beiden kleinen Töchter zu Besuch hat, abends von seiner Firma erfährt, dass er am nächsten Morgen um fünf an einem entfernten Streckenabschnitt einspringen muss. Entzerrung von Arbeitsvorgängen heißt übersetzt, dass eine Betonschwelle statt von acht nur noch von vier Mann über die Gleise gewuchtet wird, egal wie eng die Abstände der vorbeifahrenden Züge sind.

In den letzten Jahren wirkte Loach auf Festivals manchmal wie ein glorreicher Veteran und Solitär, der fast allein sein Ding durchzieht. Das scheint sich nun zu ändern. „Ich habe die Proteste zunächst für eine Art Modeerscheinung gehalten“, sagt Loach, „aber spätestens während des G-8-Gipfels wurde mir klar, dass es eine ganze Generation junger Leute gibt, die sich nicht mehr verarschen lassen wollen.“ Ansonsten verfolge er die Aktivitäten der Globalisierungskritiker mit Neugierde, ohne sich wirklich einzumischen. Mit bald siebzig Jahren sei es schon viel, jedes Jahr einen Film zu drehen, und außerdem gebe es ja auch noch andere existenzielle Verpflichtungen. „Kino und Fußball, das ist, wenn man beides ernst nimmt, schon sehr viel in einem Leben“, sagt Loach und blickt versonnen auf den Boden. „Was glauben Sie, wie lange mich das Spiel England – Deutschland beschäftigt hat.“

Laurent Cantet ist fast dreißig Jahre jünger als Ken Loach. Vor kurzem kam in Deutschland sein Film „Ressources Humaines“ in Kino, eine Vater-Sohn-Geschichte, aufgehängt am Arbeitskampf in einer Fabrik in der französischen Provinz. In „L’emploi du temps“, der in Venedig im neu eingerichteten Wettbewerb „Cinema del Presente“ den Löwen des Jahres gewann, erzählt Cantet von einem höheren Angestellten, der nach dem Verlust seines Arbeitsplatzes zum Darsteller des eigenen Lebens wird. Statt sich irgendwo zu bewerben, erfindet Vincent für seine Familie einen glamourösen UNO-Job und stilisiert sich selbst zum Entscheidungsträger. Tagsüber kurvt er im Auto durch die Gegend, hängt in Raststätten und Novotels herum – eine Notlüge verselbstständigt sich zur Existenzform.

Cantets Entfremdungsszenario ist die filmische Antwort auf die verlogenen Abstrakta und Euphemismen der Managementsprache. Mit einem Helden, den das unbestimmte Unbehagen an der eigenen Arbeit in eine hilflose, fast schizophrene Fluchtbewegung führt. „Ich habe das Gefühl, die Arbeit ist gerade dabei, wieder ins Kino einzutreten“, sagt Cantet, der mit seinen früh ergrauten Haaren etwas Cesarenhaftes hat. „Vor ein paar Jahren hieß es noch, es herrsche ein gnadenloser Individualismus, es gebe keine politischen Impulse mehr, alle Ideen hätten sich in einem diffusen Konsens der Beliebigkeit aufgelöst. Ich denke aber, dass die Antiglobalisierungsbewegung und ihr ganzes Umfeld zeigt, dass die Menschen der Welt nicht so entfremdet sind, wie man uns immer glauben machen wollte.“

Im französischsprachigen Raum sind es bisher vor allem jüngere Filmemacher, die für ein neues politisches Kino stehen und dafür teils extreme Formen fanden (unter anderem „Rosetta“ von Luc und Jean-Pierre Dardenne, „L’Humanité“ von Bruno Dumont). Inzwischen dreht mit André Téchiné selbst ein Regisseur, der sich bisher vor allem für die Liebe unter den Bedingungen der Bürgerlichkeit interessiert hat, einen Film über nordafrikanische Grenzbewegungen.

In „Loin“ wird die marokkanische Hafenstadt Tanger zum Umschlagplatz von Waren und Geschichten. Der freien Zirkulation der Handelsgüter stellt Téchiné den jungen Said gegenüber, der zum fünften Mal versucht, heimlich die Grenze nach Europa zu überqueren.

„Loin“ mag in zu viele Nebenschauplätze zerfallen, aber es sind die ständig von Menschen durchquerten Bildhintergründe, die im Gedächtnis bleiben. Trauernde auf einem arabischen Friedhof, Lastwagen, die am Grenzübergang warten, Fahrer, die ihre Achsen inspizieren, unter denen sich jemand versteckt haben könnte, schwarzafrikanische Gelegenheitsarbeiter auf Wohnungssuche.

Seltsamerweise gab es auf diesem Festival keine einzige Geschichte oder filmische Form, die wirklich im Gedächtnis bleibt, dafür aber Bilder, die zwischen und hinter der Handlung, gewissermaßen aus der zweiten Reihe berichten. In „Seafood“ sind es die zwischen Betonklötzen eingeklemmten abgeranzten Bauarbeitercontainer, in denen eine Pekinger Prostituierte wohnt und arbeitet.

In Fruit Chans schwarzer Schweinefleischkomödie „Hollywood, Hongkong“ sieht man die Wolkenkratzer der Mittelklasse wie unerreichbare Wohlstandsgebirge hinter einer verfallenen Wellblechsiedlung in den Himmel ragen. In Mira Nairs Film „Monsoon Wedding“ sind es die dokumentarischen Straßenszenen von Neu Delhi im Platzregen, mit denen plötzlich eine fremde Wirklichkeit hereinbricht – obwohl die Zwischenbilder von der Regisseurin nur als Atempausen ihrer gesellschaftskritischen Bollywoodkomödie gedacht waren.

Auch wenn die Frauen ihrer Filmfamilie einkaufen gehen, um den ruinösen Lebensmittel- und Kleiderbedarf einer indischen Mittelklassehochzeit heranzuschaffen, achtet man weniger auf die Dialoge als auf die Kramlädchen und Tandverkäufer, an denen die konsumentschlossenen Ladies vorbeihasten. Dass der Goldene Löwe mit „Monsoon Wedding“ an einen Film ging, der wilde Festvorbereitungen, megaromantische Gefühle, die Überhöhungen des indischen Genrekinos und indische Technomusik mit unbestechlicher Kulturkritik verbindet, ist wahrscheinlich die sympathischste aller denkbaren Juryentscheidungen.

Wenn sich ausgerechnet das, was jenseits der Bildachse liegt, einprägt, dann weil der Blick in vielen Filmen an den Figuren und ihrer Geschichten vorbei ging, sich über sie stellte oder von vornherein diffus blieb. In „Secret Ballot“ (Regiepreis) versucht der Iraner Babak Payami so krampfhaft die erfolgsgewohnten Parameter des iranischen Kinos in einen Film zu packen, dass seine Geschichte zum routinierten Selbstläufer wird.

Es geht um eine junge idealistische Wahlhelferin, die sich auf einer abgelegenen Insel im persischen Golf mit tumben Soldaten und demokratieunlustigen Provinzlern herumschlagen muss. Lange Einstellungen, wortkarger Humor und eine leise vor sich hin menschelnde Geschichte, an deren Ende irgendetwas in Bewegung geraten ist – das iranische Kino scheint gerade im Begriff, zu einem eigenen Genre zu werden, das sich selbst epigonal zitiert.

Wer auf die eigene Geschichte nicht neugierig ist, erzählt auch anderen nur, was sowieso schon klar ist. Wenn Sex und Körperlichkeit mit dieser Haltung gefilmt werden, ist der Blick nurmehr Instrument der Bloßstellung. Am Anfang seines Extremfilms „Hundstage“ (Großer Preis der Jury) zeigt der Österreicher Ulrich Seidl seine Landsleute beim Gruppensex. Aus dem schräg überhöhten Kamerawinkel wirken die Teilnehmer fremder als Marsmenschen. Ob eine Putzfrau für einen Rentner strippt, eine Verrückte kommerzielle Statistiken zitiert, eine Lehrerin misshandelt wird oder ein Halbwüchsiger seine Freundin schlägt – Seidl stellt sich über seine Figuren, macht sie zu Exponaten des Absonderlichen. Auch wenn der Österreicher immer wieder den gesellschaftskritischen Impetus seiner Filme betont, lässt er die Menschen nicht nur im Bild allein. Das abstoßende Verhalten seiner sexuell frustrierten, aggressiven Kleinbürger und Mittelschichtler fällt auf sie selbst zurück und nicht auf die Gesellschaft, für die sie angeblich stehen.

Vielleicht sollte man die Gesellschaftskritik im Kino bis auf weiteres lieber den globalisierungbewegten Franzosen und einem fussballliebenden britischen Veteranen überlassen. Es scheint ja schon schwer genug, einfach nur eine Geschichte zu erzählen.

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