: Schüsse in der Ortskampfanlage
Reviermeister Elsholz sorgt sich um Flora und Fauna auf dem Truppenübungsplatz Lehnin, südlich von Potsdam. Tagsüber ballern Soldaten in einer Kulissenstadt. Doch die Tiere haben mehr Angst vor den Förstern, sagt der Geländebetreuer
von ANNE HAHN
Und, füllt es das Fadenkreuz aus? Dieses Stück wird heute Abend in Ruhe äsen können, da es sich etwa 150 Meter zu weit von unserem Zielgewehr entfernt befindet. Im Fadenkreuz fehlen ein paar Millimeter bis zum Rand. Die junge Wachtelhündin fiepst leise. Sie liegt seit über einer Stunde zu Füßen der schmalen Holztreppe, die wir zum Hochstand emporgeklettert sind. Sie stellt die Ohren auf.
Ein Hase hoppelt direkt hinter ihr über den Weg. Es dämmert. Die zwei rotbraunen Kahlen (weibliches Damwild ohne Geweih) sind unter den Kastanien kaum noch zu erkennen. Der Wald wird ruhig. Das Geknalle, das den ganzen Tag hier durch die Bäume hallte, ist verstummt. Nur drei einzelne Schüsse peitschen am Abend durch das Zwielicht. Unendlich viel später gibt Herr Elsholz das Zeichen zum Aufbruch.
Auch auf dem Rückweg zum Auto wird jedes Geräusch vermieden. Am Forsthaus besichtigen die Jäger ihre Ausbeute. Drei kamen zum Schuss, drei Stücker werden in dieser Nacht ausgenommen und in das Kühlhaus des Reviermeisters gehängt, eine Pfanne zum Aufnehmen des Schweißes (das ausgetretene Blut der Tiere, wird zum Trainieren von Schweißhunden verwendet) steht darunter.
Das neu erbaute Forsthaus der Familie Elsholz liegt unweit des alten Knüppeldammes, der Brück und Lehnin über Jahrhunderte hinweg verband und nun das Sperrgebiet der Bundeswehr durchquert. Zwanzig Kilometer südlich von Potsdam kauert inmitten der Kiefernwälder und Heideflächen Altbrandenburgs der Truppenübungsplatz Lehnin, dessen forstwirtschaftliche Nutzung Reviermeister Elsholz und vier anderen Forstrevieren obliegt.
Um 1800 verlief durch das Waldgebiet um Rädel die Grenze zwischen Brandenburg und Kursachsen. Seit 1956 wurde auf diesem Gebiet der Truppenübungsplatz Lehnin errichtet. Bis zur Übernahme durch die Bundeswehr am 3. Oktober 1990 erweiterte die NVA ständig die Einrichtungen und Gebäude. Ab 1984 entstand das „Stadtkampfobjekt“, die jetzige „Ortskampfanlage“: eine nachgebaute Kulissenstadt, die mitten in Wald und Heide döst, bis die Truppen der Polizei, des Zolls, der GSG 9, der Nato- Partner und die Deltaforces Geiselbefreiung, Häuserkampf, Landesverteidigung oder den Einsatz im Kosovo darin trainieren.
Ein Jeep holpert über das Gelände der OKA, junge Soldaten in gefleckten Tarnanzügen fläzen sich vor einem ruinösen Haus in der „Karlstraße“. Tatsächlich, die wenigen Straßenzüge der Anlage tragen richtige Namen. Drei bis sechs Häuser stehen hier jeweils. Groß beschriftet mit Post, Bahnhof, Schule oder Gericht.
Auf den breiten Straßen stehen zerschossene und ausgebrannte Autowracks, meist Trabants oder Wartburgs. Eine schmutzig gelbe Telefonzelle ohne Scheiben schmiegt sich an den Bahndamm. Eine DDR-Eisenbahn, ein Straßenbahnzug und einige russische T 34-Zielpanzerwerfer, die sich vom Wald aus der Anlage nähern können, sind von weitem auszumachen. Der Leiter der Übung zeigt nicht ohne Stolz auf die Flugzeuge, die auf einer „Flugplatz“ genannten Heidewiese auf die Befreiungsübungen warten.
In der Kommandantur gibt es Kaffee im DDR-Geschirr, selbst die Löffel haben NVA-Prägestempel. Das Zimmer des Kommandanten Tannert wirkt wie ein Traditionskabinett. Handfeuerwaffen, Gewehre, Helme, Panzermodelle und Geweihe schmücken Schränke, Wände und den Schreibtisch.
Tannert seufzt. Er wird versetzt. Es falle ihm äußerst schwer wegzugehen. Die Zusammenarbeit mit den Leuten machte Spaß, Tannert hat sich wohl gefühlt. Der korpulente Mann mit dem verschmitzten Blick schwärmt von seiner Arbeit. Am wichtigsten war es ihm, die typische Heidelandschaft zu erhalten und den Wald „umzubauen“. Tannert möchte 200 Jahre alt werden, um hier mal einen Mischwald kennen zu lernen.
Mit im Bunde ist Herr Steinke von der „Geländebetreuung“. Der war Landwirt und Gärtner in Beelitz, bevor er 1991 zur Standortverwaltung Geländebetreuung kam. Rund 50 Beschäftigte begrünen die Sportanlagen und Schießbahnen, halten das Gras niedrig und pflegen Bäume und Heide. Die Geländebetreuer lassen Inseln von Bäumen stehen, die zum Rückzug für Tiere dienen. Auch Steinke gerät ins Schwärmen. „Welch wunderbares Blumenmeer ist doch eine blühende Heide! Am schönsten ist es, wenn mal alles abbrennt, und dafür sorgt manchmal die Truppe selbst.“
Bevor die Frage gestellt ist, kommt Tannert ihr zuvor; man nehme die Verantwortung über den Naturschutz sehr ernst. Nistkästen werden zum Beispiel gemeinsam mit Kindern der 5. und 6. Klasse aufgehängt, kontrolliert und saubergemacht. Alle Beobachtungen tragen die Kinder ins Nistkastenbuch ein. Woher die Kinder kommen? Aus den umliegenden Orten. Jede Familie im Umkreis hat laut Tannert mindestens einen Angestellten im Gelände. Der Truppenübungsplatz Lehnin sei der größte Arbeitgeber der Region. Sonst werden in der kargen Hackenheide nur Saisonkräfte im Spargeleinbringen gebraucht.
Ob das Wild durch die Schießerei belästigt wird? Tannert lacht, „das ORB-Magazin ‚Vor Ort‘ hat hier 1997 während des Beschusses Emissionsmessungen zur Geräuschbelästigung gemacht – die Vogelstimmen waren lauter!“ Das Wild ruht, führt Elsholz aus, aber wenn um 16 Uhr Beschussende ist, kommt es 16.30 Uhr auf die Schießbahn. Steinke meint, „die Tiere haben eher Angst vor den Förstern“.
Der Geländewagen des Reviermeisters Elsholz jagt nach dem Mittagessen in der Kommandantur durch die Kiefernwälder. In der Ferne donnern Schüsse. 12.30 Uhr – Termin an der Holzlesemaschine. Ein Kunde braucht Stämme. Die Schneisen sind bereits am frühen Morgen ausgezeichnet worden. Die gekennzeichneten Baumstämme wurden „geschlagen“ und „geschält“.
Die dafür notwendigen Maschinen tragen eigenartige Namen und sehen sonderbar aus. Der „Harvester“ schneidet die Bäume unten ab. Der „Vorwarder“ schält die Stämme wie ein riesiger Bleistiftspitzer. Der „Rücker“ lädt das „Kurzholz“, die immerhin noch fünf Meter langen Stämme, auf einen offenen Wagen und stapelt sie nach dem Ausbringen auf dem Waldweg. Der Abholer lädt, nachdem ein Revierleiter die Stapel vermessen hat, alles auf seinen Lkw. Vögel zwitschern und noch immer grollen die Schüsse im Wald. Ein Waldstück muss ausgezeichnet werden. Die Begleiterin darf mit gelbem Plastikband einige der schönsten und sehr gerade gewachsenen „Zukunftsstämme“ kennzeichnen. Um sie herum werden krumme und kranke Bäume gefällt. Beinahe zwei Stunden dauert es, das kleine Waldstück zu bearbeiten. Und der Tag ist noch lange nicht zu Ende. Aber der Beschuss.
Die Schablonen mit den Beschusszeiten, die Herr Elsholz heute morgen in seinem Forsthaus aufgehängt hat, müssen wieder ausgewechselt werden. Der Reviermeister trägt während der achtstündigen Beschussdauer die Verantwortung, dass niemand von „seinen Leuten in die Gefahrenzone gerät“.
Doch jetzt kehrt Stille ein. Nun kann das verletzte „Stück“, das am Vorabend aus Versehen angeschossen wurde, mit Hilfe eines „Schweißhundes“ gesucht werden. Es schleppte sich in den Wald und verschwand.
Eine abenteuerliche Fahndung wird inszeniert. Der speziell ausgebildete Schweißhund nimmt den Geruch an einem Stück Talg auf, das an der Einschussstelle gefunden wurde. Wie Kriminalisten arbeiten Elsholz, sein Chef vom Forstamt Potsdam, Herr Weber, und der Hundeführer Simon sich durch das Unterholz. Nach einigen Kilometern zu Fuß oder mit dem Auto wird die Suche abgebrochen, die Auswertung muss dem Laien übersetzt werden: Die Behausung des Tieres wurde vom Hund aufgespürt und wies kein Zeugnis ernsthafter Verletzung auf. Die Männer sind erleichtert.
Noch einmal geht es kurz zum Forsthaus, wo der junge Vater Elsholz seinen Sohn auf den Arm nimmt. Der knapp einjährige Ole spielt mit den drei Eicheln auf der Uniform des Forstamtmannes und quiekt vergnügt. Frau Elsholz arbeitet in der Landesforstverwaltung Brandenburg. Zum Haushalt gehören vier Wachtelhunde, die Elsholz selbst trainiert und züchtet. Die jüngste Hündin darf mit zur Jagd. Sie muss das Anpirschen und Ruhighalten lernen.
Wir steigen wieder in den Geländewagen. Durch den sonnenerfüllten Kiefernwald preschen wir mit einigen Jägern und Jagdgästen ins Sperrgebiet. Die Ruhe ist überwältigend. Als wir nach langem, vorsichtigem Anpirschen einen Hochstand erreichen, ist die Sonne irgendwo hinter der Ortskampfanlage verschwunden. Die Jagd kann beginnen.
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