Mit den Eltern auf Horchposten gehen

Vergangenheit und Moderne der Frühpädagogik erfinden den Kindergarten neu: Das Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus will Kinder aufmerksamer beobachten als bisher – und sich weit für die Eltern öffnen

von CHRISTIAN FÜLLER

Es ist kein richtiger Job. Susanne Tiziano[*]hat gar keine echte Arbeitsstelle gefunden. Die Italienerin bekommt nur eine kleine Aufwandsentschädigung für Zuarbeiten, die sie erledigt. Und trifft Leute. Wie so viele Frauen hatte sie nach der Geburt ihres Kindes das Gefühl, den Anschluss zu verlieren. Geholfen hat ihr nicht das Arbeitsamt, kein Bürgerbüro und auch kein gemeinnütziger Verein. Susanna konnte sich ein paar Mark in einem Kindergarten verdienen, hier, in ihrem Kindergarten.

Hier, das ist der Pestalozzi-Fröbel-Kindergarten in Berlin-Charlottenburg, in den Susanna Tizianos Tochter gehört. Dieser Kindergarten kümmert sich nicht nur um seine kleinen Schützlinge, es gibt dort auch Platz, Tipps und notfalls sogar Jobs für Eltern. Das ist ganz neu in Deutschland, die Idee kommt aus Großbritannien. Die dortigen Early Excellence Centres sind Kindergärten mit einem anspruchsvollen pädagogischen Programm – die zugleich etwas von Arbeitsamt, Bürgerbüro und Bildungsverein haben.

Diese Idee haben die Charlottenburger übernommen. Seit vergangener Woche, dem Beginn der Kindergartensaison 01/02, versuchen sie „aus einer im Kiez verankerten Einrichtung das Beste für benachteiligte Eltern und ihre Kinder erreichen“. So erklärt es die Initiatorin des Berliner Projekts, Anette Lepenies. Das Beste lässt sich dabei, meint sie, nicht allein mit ausgefeilten Erziehungsmodellen für die Zwei- bis Sechsjährigen erreichen. Dazu müssen aus Kindergärten echte Familienzentren werden und community education praktizieren. Erziehung in und für das Gemeinwesen, heißt das in etwa auf Deutsch.

Lena schleppt ein Kaleidoskop durch den Kindergarten, das fast so groß ist wie sie selbst. Die Kleine ist eineinhalb Jährchen alt, und wenn ihre Eltern Einkäufe ohne ihre sehr neugierige und sehr wacklig laufende Tochter erledigen wollen, haben sie dazu bald Gelegenheit. Im Oktober öffnen die Erzieherinnen den Pestalozzi-Fröbel-Kindergarten ausnahmsweise an einem Samstag, um Eltern Zeit für das Wochenend-Shoppen zu geben.

„Das ist einer der Testballons, die wir ab sofort steigen lassen“, sagt Jutta Burdorf-Schulz. Die Projektkoordinatorin und erste family workerin will damit den Eltern demonstrieren, wie viel mehr Kindergarten künftig in der Schillerstraße 61 bedeuten wird. Die Eltern sollen sich dabei aktiv beteiligen, bei einem Sonntagsfrühstück etwa oder wenn im Kindergarten ein Trödelmarkt aufmacht. Eine Mutter will einen Tai-Chi-Kurs geben – ebenfalls im Kindergarten. Eigene Räume, die eine Öffnung des Kindergartens für Eltern und Kiez ermöglichen, richten die Handwerker gerade her.

Das Vorbild für den sich wandelnden Kindergarten liegt in Corby, England, und heißt Pen-Green-Kindergarten. Die Kleinstadt Corby ist, anders als Berlins reicher Stadtteil Charlottenburg, ein echter sozialer Brennpunkt. An dem in den 80ern abgewickelten Stahlstandort gibt es noch weniger Jobs als in Berlin. Viele Mütter sind, ein neues britisches Phänomen, noch nicht volljährig. Sie sind geradezu angewiesen auf die Beratung, die ihnen der Pen-Green-Kindergarten anbietet. Oder die Qualifizierung, die dort vermittelt wird. In der Kita nahe dem Berliner Ku’damm müssen sich die Eltern-Angebote erst entwickeln. „Die Bedingungen sind hier ganz anders“, sagt Projekkoordinatorin Burdorf-Schulz vorsichtig, „wir müssen erst herausfinden, wie wir die Familien am besten unterstützen können.“

Kurz vor der Mittagspause müssen die Erzieherinnen Jeanette Gliese und Regina Auth besonders gut zu hören. Dann ist die Erzählstunde, eine Gruppe von 13 Kindern hat sich dazu ins Kuschelzimmer zurückgezogen. Der vierjärige Jannic berichtet halb stolz, halb ängstlich von seinen ersten Badeversuchen. Als die Welle kam, hat er – jetzt verhakt sich vor Furcht seine Zunge nochmal –, hat er einen Moment lang keine Luft bekommen. Auch Lucy, 3, ringt um Luft – weil sie ihre Urlaubsgeschichte unbedingt loswerden will.

Morgenkreise und Erzählrunden veranstalten heute wahrscheinlich alle Kindergärten. Aber bei Pestalozzi und Fröbel in der Schillerstraße soll das jetzt anders werden. „Das Wichtigste ist, dass wir lernen, die Kinder neu zu betrachten – damit wir durch genau Beobachtung herausfinden, wie wir sie fördern können“, sagt Renate Müller. Die Chefin von 15 Erzieherinnen ist von jeher reformpädagogisch geprägt. Sie hat lange für das progressive Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus gearbeitet. Trotzdem empfindet sie ihr Erziehungsprinzip nach einem Besuch in Corby als zu eng, zu reglementiert. „Wir wollen heraus aus dem bisherigen System, die Kleinen zu betreuen und zu beschäftigen“, sagt Müller. Die Kinder sollen mehr Raum fürs Experimentieren bekommen.

Die Idee, sich noch einmal intensiv mit der Erziehung von Kleinkindern zu befassen, hatte eine ältere Dame: Heide Dürr. Und weil Frau Dürr und ihr Mann, der Industrielle Heinz Dürr, auch Stifter sind, war nicht ganz zufällig Geld da, um die hehren Erziehungsprinzipien auch umzusetzen. Das ging relativ flott. Dürr beauftragte die Psychologin und Erzieherin Anette Lepenies, den wissenschaftlichen Stand der Kleinkindpädagogik zu ermitteln. Lepenies traf dabei schnell auf die beiden Insititutionen, die auf ihre Art führend sind: Pen Green in England und das Berliner Pestalozzi-Fröbel-Haus.

Nach der Vorstellung der Stifter geht es gar nicht darum, den Brennpunktansatz von Pen Green nach Berlin zu transferieren; da müsste der Kindergarten ja auch eher in einem der Berliner Problembezirke liegen, in Wedding oder Neukölln etwa. Die Idee liegt darin, ein funktionierendes Modell zu schaffen, daraus Lehren für die Qualifizierung von Erzieherinnen zu ziehen – und so das Modell zu verbreiten. Dazu ist die Zusammenarbeit von Pen Green mit dem Pestalozzi-Fröbel-Haus ideal. Das ehrwürdige Pestalozzi-Haus betreibt nicht nur Kindergärten wie den in der Schillerstraße, es hat sich seit über 125 Jahren der Ausbildung von Erzieherinnen verschrieben.

Jeanette Gliese zählte zu den ersten Erzieherinnen, die zur Hospitation in Corby waren. Sechs Stunden lang, sie tippt sich an die Stirn, „sechs Stunden lang haben wir über Bauklötze geredet“. Und fügt hinzu: „Das war die beste Weiterbildung, die ich jemals hatte.“ Jeanette ist bald 20 Jahre im Geschäft, künftig wird sie besser verstehen, wenn ihre Schützlinge plötzlich anfangen, Bauklötze in die Senkrechte zu bauen. Man kann daran erkennen, in welcher Entwicklungsstufe sich die Kids gerade befinden – und so bessere Fördermöglichkeiten ins Spiel bringen.

Jeanette Gliese und ihre Kolleginnen von Pestalozzi-Fröbel sind nicht allein mit ihrem Ansatz. Die Kindheitsforscherin Donata Elschenbroich hat kürzlich gefordert, schon Kleinstkinder stärker zu fördern. Und die Hans-Böckler-Stiftung hat dazu ein Gutachten veröffentlicht. Der Clou daran: Heute sind es die Linken, die mehr Leistung fordern – wenn auch anders verstanden als die Paukerei abstrakter Stoffmassen. In die Kinder hineinhören, so heißt die Devise jetzt, um herauszufinden, welche Talente da schlummern.

[*]Name von der Red. geändert

Der Kindergarten wird am Samstag offiziell eröffnet. www.pfh-berlin.de