: Vor Anker zwischen Kreuzberg und Neukölln
Flirten per Jukebox
1995 wurde Neukölln hip. Und das ging so: Die Wirte aus der Kreuzberger „Wiener Blut“-Bar wollten als zweite Kneipe eines der Schiffe am Kreuzberger Urbanhafen mieten. Riedels Reederei lehnte bedauernd ab, bot aber als Trostpreis eine kleine, hutzelige Kneipe an einer alten Dampferanlegestelle an. Die zählte eher zur Spezies der Berliner Eckneipe, wenn auch ohne Eck, dafür aber mit Dartscheibe, Herrengedeck und Kartoffelsalat. Die Wiener-Blut-Wirte fassten sich drei Herzen und sagten: Ja. Der Rest ist eine einzige Erfolgsgeschichte.
Auf dem Weg in die an der Kottbusser Brücke und also genau an der Grenze von Neukölln und Kreuzberg gelegene „Ankerklause“ stellt sich nun jedes Mal die Standortfrage: Gehen wir nun eigentlich in Kreuzberg oder Neukölln aus? Die Post hat die Ankerklause dem sowieso schon üppig mit Kneipen und Bars ausgestatteten Kreuzberg zugeschlagen. Das Vermessungsamt hält jedoch tapfer dagegen und verortet den Laden im notorisch unterversorgten Neukölln. Richtig kompliziert aber wird es, wenn es um noch grundsätzlichere Entscheidungen geht: Seeseite (Kreuzberg) oder Straßenleben (Neukölln)? Vor allem im Sommer fällt die Entscheidung schwer. Entweder man sitzt vor der Kneipe und genießt den Blick auf den Kottbusser Damm als Inbegriff des in Neukölln besonders laut brüllenden Lebens. Oder man verweilt feinstofflicher gestimmt auf der eher fernwehmelancholischen Veranda über dem Kanal.
Kann ein Blick auf den Damm auch dem eingeschluffelsten Couch-Chip und PC-Potato noch das Gefühl verleihen, ganz nahe dran zu sein am heißen, schnellen Leben, so versetzt ein kühler Drink auf der Veranda den fantasievolleren Zeitgenossen problemlos nach Amsterdam. Ja, wenn der Platz in dem einen auf der Veranda stehenden Strandkorb ergattert wird, sogar in ein englisches Seebad. Sollte zufällig mal wieder Winter sein, dann geht’s in den Wintergarten: Da gibt’s Gerumpel und die Luftzüge der unter der Kneipe durchsausenden U-Bahn (Kreuzberg oder Neukölln, egal: Det is Berlin!)
Überhaupt das heiße Leben. In der „Ankerklause“ schlagen die Hormone nicht selten hohe Wellen. Flirten beispielsweise stellt sich in der drangvollen Enge als ganz unkompliziertes Verfahren dar, das auch den Schüchternsten problemlos gelingt. Als Geniestreich der Wirte erwies sich die Jukebox. An ihr lassen sich bequem noch einmal die Pop-Diskurse der letzten zwanzig Jahre führen, und sie regelt die musikalische Grundversorgung des trinkenden Publikums basisdemokratisch und geschmackvoll. Nicht selten beginnen Menschen unvermittelt zu tanzen, weil sie gerade ihr allerneuestes oder allerältestes Lieblingsstück entdeckt haben. So gibt es zuweilen seltsam schöne Partys, an deren Ende, wenn vier bis neun Menschen sich sehnsuchtsvoll in den Hüften wiegen, immer wieder die Frage steht: Zu früh zum Gehen oder zu spät?
An dieser leicht spacigen Atmosphäre wirken hinter dem Tresen einige außerordentlich charmante Kräfte mit: Allen voran die weltgewandt sofort als „Engländerin“ geoutete New Yorkerin und der Mann, der zugleich so nett und ironisch lächelt, dass niemand blöd fragt, wo er eigentlich herkommt. Nur der ewig bleiche ‚Magengeschwür‘ – kurz MG genannt – nervt. Schlägt immer so flapp-flapp mit dem Portemonnaie auf die Handinnenfläche, wenn er anlässlich des wöchentlichen Tanzvergnügens am Donnerstag den Türsteher gibt. Man hat ihn zum Glück schon lange nicht mehr gesehen.
Es gibt natürlich Zeiten, da braucht es auch im „Anker“ starke Nerven. Wenn Papadam, die Lokalberühmtheit unter den fliegenden Händlern, den Laden entert und mit markerschütternden „Papadam“-Schreien sein indisches Gewürzbrot anbietet. Kann vorkommen, dass eine Kostprobe direkt im Mund landet, weil man den gerade zum Reden geöffnet hatte. Oder wenn Love Parade ist. Heuschreckengleich entern wildfremde Menschen in komischer Bekleidung, irrem Make-up und ebensolchem Lachen die Veranda, rhabarbern aufgeregt und sind bemüht, Zugehörigkeit zu demonstrieren: Liebes Republik? Neues Mitte? Mainzens Gonsenheim?
Ungelöste Fälle, wie so vieles. Am besten aber ist es, wenn nachmittags nach dem Markt am Maybachufer einige Rentnerinnen mit lila Betonlöckchen ihre ergrauten Lover zum Kaffee ausführen, daneben türkische Dragqueens Photoshootting machen und auch der Normalneuköllner im knitterfreien Anzug sein Bestes tut. Private Autohändler runden bei Schnaps und Kaffee Handel und Wandel ab.
Die Unterscheidung zwischen Kreuzberg und Neukölln lässt sich dann schon lange nicht mehr treffen. Abends sitzen wir dann wieder mit den üblichen Verdächtigen da und stellen plötzlich fest: Eigentlich ist der „Anker“ in einem ganz anderen Land. Kleine Fischchen schwimmen auf den Wänden. Hans Albers grüßt herüber. Und über allem schwebt die Discokugel. ELKE BRÜNS
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