: „Es wird nie mehr sein wie früher“
Bernd Greiner, Amerikaforscher vom Hamburger Institut für Sozialforschung, über politische und psychologische Folgen des Angriffs auf die USA
Interview JAN FEDDERSEN
taz: Herr Greiner, was ist für Sie am 11. September 2001 in New York und Washington passiert?
Bernd Greiner: Ich steh’ noch völlig unter Schock. Immer wieder diese Bilder. Sichtbar wurde für mich die Signatur des Krieges im 21. Jahrhunderts. Eines Krieges, der nicht mehr zwischen Staaten geführt wird. Nun stehen auf der einen Seite Warlords, zum Massenmord entschlossene Kriminelle, die – das ist die Pointe – mit einem Low Budget arbeiten. Man braucht offenbar keine gigantische Organisation mehr, um zu tun, was die getan haben.
Wenig Personal und einige Tapeziermesser, um die einzig echte Supermacht auszuhebeln.
Und Kenntnis der Flugpläne nebst einer gewissen logistischen Fähigkeit. Für mich heißt das: Es hätte ebenso gut England treffen können oder Japan, wen auch immer. Jetzt traf es das World Trade Center. Sind es morgen Atomkraftwerke? Übermorgen Staudämme? Oder schmeißt man eine leicht herzustellende biologische Waffe auf eine Stadt? Diese Dimension hat es. Und es ist absolut unkontrollierbar. Das unterscheidet dieses Ereignis von allem, was vorher war.
Amerika ist doch schon in Pearl Harbor auf eigenem Terrain getroffen worden.
Bis dahin, Anfang der Vierzigerjahre, glaubten die USA, von zwei Ozeanen geschützt zu sein. Ein Leben führen zu können ohne Bedrohung. Der japanische Angriff war jedoch einer auf das Militär der USA. Jetzt geht es gegen Zivilisten, und zwar in einer Weise, dass man nicht sagen kann, da steht eine Regierung dahinter – wie in Pearl Harbor die japanische mit benennbaren Absichten.
Ein Schuss ins Herz, wie ein Kommentator in den USA sagte.
Weil man nicht weiß, wer es war. Selbst wenn man diejenigen finden sollte, die dahinter stehen: Was heißt das schon? Mit jedem, den man dingfest macht, kommen zehn, hundert neue, die in ihrem unbändigen Hass zu Gleichem fähig sind.
Woher stammt dieser Hass?
Kann ich nicht sagen. Man kann eine endlose Aneinanderreihung von außenpolitischen Fehlern der letzten 30 Jahre aufmachen. Aber diese erklären doch nicht die Bereitschaft zum Massenmord. Da versagen alle gängigen Ursache-Wirkung-Modelle. Das finde ich das Gespenstische.
Aus nahöstlicher Sicht wurde der Anschlag als gerecht wahrgenommen.
Als ich diese Freudentänze im Fernsehen gesehen hatte, dachte ich, das ist inszeniert, da macht sich jemand einen Spaß daraus, aber es geht offenbar tiefer. Ich kann sagen, woher religiöser Fundamentalismus kommt, woher politischer Fanatismus kommt, aber alles zusammen macht mir nicht die kriminelle Energie erklärbar, die zu der Tat geführt haben muss.
In Palästina ist es vielen Familien eine Ehre, wenn ihre Söhne sich zu Selbstmordattentätern ausbilden lassen.
Auch das ist das Dementi all dessen, was wir uns seit der Aufklärung als Menschenbild zurechtgelegt haben. Jetzt wird sogar ein Flugzeug zu einer Bombe gemacht. Es scheint das Gespür verloren gegangen zu sein, was es heißt, Zehntausende umzubringen. Diese Absehung vom eigenen Leben; dass das Leben nichts mehr wert ist, andere zu opfern, andere preiszugeben: Das ist für mich das Entsetzliche.
Im Nahen Osten heißt es vielerorts: Das haben die Amerikaner nun davon.
Das ist die Begründung einer pubertären Regression. Wie ein kleines Kind, das Krach mit seinen Eltern hat und sagt, ich geh jetzt raus und schmeiß mich vor den Zug, und wenn ich tot bin, dann habt ihr das davon. Wie ein Modell der Regression einer Gruppe: Indem sie anderen Leid zufügt und glaubt, die Welt komme darüber zur Besinnung.
Einige Stimmen meinen, My Lai habe nun in Manhattan stattgefunden.
My Lai in Vietnam entstand aus der Dynamik einer erregten Ausnahmesituation. Hinter solchen historischen Analogien steckt Ratlosigkeit – wie sie die Bild-Zeitung in ihrer Schlagzeile „Großer Gott, steh’ uns bei!“ formuliert hat –, kombiniert mit dem Versuch, doch noch irgendeine Erklärung zu finden.
Aber die gibt es wohl nicht.
Nein, dafür erkenne ich nur eine Absage an das Menschenbild, das wir uns seit der Aufklärung gemacht haben: Austritt aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit, also eine Welt zu öffnen, in der Individuen auf einer rationalen Grundlage sich einander begegnen, wo es Wertesysteme gibt, die beide Seiten respektieren, und die nach Ausnahmesituationen – nach Kriegen – wieder reklamiert, wieder angerufen, wieder reaktiviert werden können. Das scheint uns abhanden gekommen zu sein. Schon allein deshalb wird die Welt seit dem 11. September nicht mehr so sein wie früher.
Wird die politische Elite Amerikas ihr Verhältnis zum Krieg überdenken müssen?
Da wird sich vieles ändern. Die USA sind ein Land, das geschützter ist als alle anderen. Das Schutzbedürfnis findet Akzeptanz im Land selbst, weil es ein Sicherheitsversprechen gibt. Jetzt kommt dieser Terror. Egal ob die Eliten wollen oder nicht: Zum großen Teil werden ihnen die Hände gebunden sein, wenn sie mit dem Schutzbedürfnis der Bevölkerung konfrontiert werden.
Wie wird sich dies im Alltag auswirken?
Ich fürchte, man wird sich nicht mehr so bewegen, wie man sich bewegt hat. Es gab keine Bannmeilen. Und man konnte in Washington in jedes Regierungsgebäude hinein, ins Capitol, ins Weiße Haus, selbst ins Pentagon. Da standen irgendwelche Betonpoller herum, als Schutz gegen Sprengstoffanschläge. Man konnte sich bewegen – eine Selbstverständlichkeit im amerikanischen Lebensgefühl. Ich glaube, das ist buchstäblich weggeblasen worden.
Würden Bushs Raketenabwehrpläne Sinn machen?
Überhaupt keinen. Das ist eine High-Budget-Lösung – und hätte den Terror vom 11. September auch nicht aufgehalten.
Rächt sich jetzt nicht das amerikanische Nachkriegsdesaster von Vietnam bis Watergate: Die Geheimdienste waren zuletzt nur mit Skandalen in eigener Sache beschäftigt?
Es hat sich etwas anderes gerächt. Unterstellt, der Anschlag kam aus afghanischem Umfeld, wäre dies eine furchtbare Erbschaft des Kalten Krieges. Denken Sie an den sowjetischen Krieg in Afghanistan, wo die Amerikaner Partei ergriffen für solche fundamentalistischen Gruppen wie die um Ussama Bin Laden. Man hat sie alimentiert, aber in dem Augenblick fallen gelassen, wo der Mohr seine Schuldigkeit getan hatte. In dem Augenblick wendete sich der ganze Zorn, die Wut, die kriminelle Energie gegen das Land, das man zum Verbündeten gegen die Sowjetunion hatte. Und all das absolut zeitgleich, als im Iran die ersten Kommandos auftraten, die das Selbstmordattentat zur höchsten Form der Selbstfindung erklärten.
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