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Die Suche nach Normalität

Noch schweben Rauchsäulen über New York und die Straßenschluchten sind fast leer. Nur wenige Cafés sind geöffnet

Er weiß von Freunden in Brooklyn, dass sie sich kaum noch aus dem Haus trauen

aus New York DAVID SCHRAVEN

Der Himmel über New York ist blau. Tiefblau. Wäre da nicht die weiße Rauchsäule, die über den Trümmern des World Trade Centers in Lower Manhattan aufsteigt. Sie treibt über die Prachtmeile der Fifth Avenue, bevor sie sich langsam über der Bronx auflöst. Es ist Tag zwei nach den Terroranschlägen auf das Weltfinanzzentrum. Die Börse in der Wall Street bleibt auf unbestimmte Zeit geschlossen. Das Kaufhaus Macy’s, die Ketten Starbucks und McDonald’s sind zu, genauso wie der Edelschuhladen Lord and Taylor. Die Stadt ist ruhig. Es fahren nur wenige Autos. Wenige Menschen schlendern durch die Straßenschluchten. Rauch ätzt in den Augen.

Das Straßencafé „commune“ in der 23. Street hat geöffnet. Auf der Terrasse sitzt Wayne Dickson, ein Geschäftsmann aus Opaso, Texas. Er hat eine Flasche 97er Rotwein „Mondee Shiraz“ vor sich stehen und liest in dem Buch „Der Bär und der Drache“ von Tom Clancy. Es geht um die Gefahr, die von den Mächten Russland und China für die USA ausgeht. Clancy ist Autor von Thrillerromanen. „Wir sind jetzt sicher“, sagt Dickson. „Die Terroristen haben Ruhe gegeben. Jetzt sind wir am Zug. Die USA werden zurückschlagen.“ Und er glaubt ganz fest: „Nach unserem Schlag werden die Terroristen nie wieder die Möglichkeit haben, uns anzugreifen.“

Der Araber Bachary Hassan steht unentschlossen vor seinem geschlossenen Andenkengeschäft. „Ich hab Angst“, sagt er. Gestern sei er beschimpft worden. Einer habe ihn angespuckt. „Aber wir haben doch nichts mit dem Terror zu tun. Bin Laden steht nur für sich selbst.“ Er weiß von Freunden in Brooklyn, dass sie sich kaum noch aus dem Haus trauen. Nach dem Bombenanschlag auf das World Trade Center 1993 seien Schaufensterscheiben arabischer Geschäfte eingeschlagen worden. Sogar ein Molotowcocktail sei geflogen.

In der Einfahrt zur Notaufname des Medical Center des Department of Veterans bilden Flugblätter einen Wandteppich. Er ist mannshoch und fünf Schritte lang. Auf jedem der kopierten Din A4-Blättern ist ein Name, ein Foto und eine Zahl. Vladimir Savinkin, 101. Etage. Stephan Fogel, 104. Etage. Neben dem Foto von Trerra Karama, 97. Etage, ist die Kopie seiner unbefristeten Aufenthaltserlaubnis, ausgestellt am 27. November 1998. Das Foto von Lucia Jackson, 97. Etage, ist auf dem 51. Geburtstag ihrer Mutter Amy aufgenommen worden. Die Hände von Amy zittern, als sie das Bild zeigt, auf dem die beiden schwarzen Frauen in die Kamera lachen. Amy hat dasselbe bunte Kleid wie damals an. Ihre Tränen werden vom Schatten ihres rosafarbenen Hutes verdeckt. „Unsere Luzzie ist eine Kämpferin“, sagt sie. „Sie wird rauskommen. Wenn es ein Loch gibt, wo sie durchkrabbeln kann, wird sie durchkrabbeln.“ Ihre Stimme erstickt. Dann setzt sie neu an. „Unsere Luzzie ist so stolz auf ihre Arbeit. Wo ist sie nur?“ Ihre Finger streichen über das Gesicht ihrer Tochter auf dem Foto.

Es kommen andere Leute mit mehr Fotos, mehr Geschichten. Es sind Dutzende, die nach ihren Freunden und Angehörigen suchen. Ben Goldman hat das Bild seines Vaters dabei. „Vielleicht liegt er verletzt im Krankenhaus und kann nicht reden. Wenn die Leute sein Bild sehen, erkennen sie ihn vielleicht. Sie sollen zu Hause anrufen.“ Eine junge Frau spricht Ben an. „Wie heißt dein Vater mit Vornamen?“ – „Jerry“ – „Der Versicherungsangestellte Jerry? Der von Morgan Stanley?“ Ben nickt heftig. „Den haben wir auch nicht gefunden. Mein Gott, mein Vater hat mit ihm zusammengearbeitet. Wir haben Betsy und Terry gefunden.“ Das Paar geht an die Seite, tauscht Telefonnummern aus.

Vor dem Eingang des Beth Israel Hospital an der First Avenue ist die Schlange zum Blutspenden kurz geworden. Der Polizist Puerto Castello hält die Einfahrt vor der Notaufnahme frei. Er grinst seine Kollegin an, feixt. Spielt mit ihrer Erkennungsmarke. Wann die letzte Ambulanz angekommen ist? „Weiß ich nicht, muss vor meiner Schicht gewesen sein.“ In den Abendnachrichten wird später berichtet, dass nur knapp 500 Verletzte in alle Krankenhäuser New Yorks eingeliefert worden sind. Der letzte Transport war angeblich gegen 24 Uhr Dienstagnacht.

Gerüchte wabern durch die Straßen. Eine Frau erzählt, es werde mit 20.000 Toten gerechnet. Es würden hunderte Leichen geborgen. Fähren brächten sie über den Hudson River nach Jersey. Eine andere Frau sagt, die in den Trümmern Eingeschlossenenhätten keine Chance zum Überleben, der dichte Staub habe längst alle erstickt. Eingeschlossene würden über Handys mit ihren Verwandten telefonieren, weiß ein Mann. Ein anderer berichtet, der Liberty Tower sei eingestürzt. Viele scheinbare Gerüchte erweisen sich später als Wahrheit. In der Nacht wird das Viertel um das Empire State Building geräumt. Es hat eine Bombenwarnung gegeben. Auf der 14. Straße haben Polizisten aus Upstate New York die Avenues nach Downtown gesperrt. Sie lassen nur Passanten durch, die ihren Wohnsitz weiter südlich in Manhattan haben. Ist die nördliche City ruhig, ist sie hinter der Absperrung totenstill. Hier hat fast kein Laden mehr auf. Menschen gehen in kleinen Gruppen weiter. Nur ab und zu fährt ein Polizeiauto oder ein Feuerwehrwagen stumm über die leeren Straßen. Der Brandgeruch wird bitterer. Ein Pudel irrt umher, trabt wenige Schritte in eine Richtung, dreht um, trabt weiter, bleibt stehen. Sein früher weißes Fell hängt fransig herab. Er winselt. In seinem Gesicht klebt blutig ein ausgelaufenes Auge.

An der Ecke Avenue of the Americas und Houston Street hat sich eine kleine Menschentraube gebildet. Bulldozer rollen minutenlang vorbei. An ihren Fahrerkabinen sind amerikanische Fahnen befestigt. Eine junge Schwarze fängt an, rhythmisch zu klatschen. Andere fallen ein. Menschen beginnen zu jubeln. Eine alte Frau hebt ihre Arme in die Luft, formt mit ihren Fingern das Victory Zeichen. Eine Ecke weiter beginnt das Ausgehviertel um die Uni. Hier haben fast alle Cafés geöffnet. Auf den Straßen trinken Pärchen Bier. Viele haben Staubschutzmasken um den Hals hängen. Eine junge Frau fragt ihren Freund: „Wo sollen wir heute Abend hingehen?“ – „Ted hat gesagt . . .“

Im Park am Union Square spielen Kinder. Ein Geschäftsmann liegt mit offenem Hemd auf der Wiese. Zwei Männer werfen sich einen Football zu. Vor dem Denkmal George Washingtons haben sich einige dutzend Menschen versammelt. Auf dem Boden liegen Spruchbänder und Stifte. Ein Rastafari mit langen Dreads schreibt. „Es ist schwierig, an Frieden zu glauben, wenn so viele Krieg wollen.“ Einen Schritt weiter steht: „Bomb them, Bomb them, Mr. Bush.“ Und: „New York ist erschüttert, aber New York wird zurückschlagen.“ Vereinzelt heulen Sirenen. In der Dämmerung beginnt eine stumme Kerzenandacht auf dem Washington Square.

Die Rauchsäule über dem Finanz District wird dünner. Langsam bildet sich ein Kreis um den Springbrunnen in der Mitte. Menschen strömen herbei. Der Platz füllt sich. Einige hundert stehen schweigend zusammen. Ein Mädchen mit rot gefärbten Haaren schützt ihre Kerze mit der Hand. Sie heißt Carolyn Demisch. „Ich habe da unten gewohnt. Jetzt schlafe ich bei Freunden“, sagt die Studentin. Was ihre Kerze bedeuten soll? „Ich will meine Trauer zeigen. Mein Mitgefühl mit den Opfern. Meine Solidarität. Ich bin geschockt. Wie konnte das passieren?“ Bedeutet die Kerze auch Frieden? „Oh. Die Kerze heißt nicht, dass ich Pro-Frieden bin. Wir müssen Krieg gegen die Terroristen führen. Wir müssen sie ausrotten. Der Frieden hat doch nie eine Chance gehabt.“

Plötzlich steigt wieder eine dichte weiße Wolke über der Südspitze Manhattans auf und raubt das letzte Abendlicht. Das Gebäude Nummer fünf am World Trade Center ist eingestürzt.

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