: Land der himmlischen Liebhaber
Bisweilen fühlt man sich als Reisender in Bhutan an das gallische Dorf erinnert, das zäh und allein Widerstand gegen Kulturimperatoren leistete. Man fragt sich, wie lange das Land gegen den Strom der Tourismusindustrie schwimmen kann
von FRANK SCHLICHTMANN
In der Grenzstation von Rinchending oberhalb der Stadt Phuntsholing müssen wir unser vorläufiges Visum vorzeigen, das wir schon in Deutschland beantragt haben. Hier bekommen wir die endgültige Einreisegenehmigung gegen eine Gebühr von 25 US-Dollar. Der Grenzbeamte trägt gewissenhaft unsere Daten in einen großen Register ein.
Bhutan ist kein Reiseland, obwohl das Land alles bietet, was den modernen Alpinsportlern das Herz höher schlagen lässt. Es ist September, und wir haben die von dem Spätmonsun befeuchteten flachen Ebenen Indiens hinter uns gelassen. Wir fahren die Südhänge des Vor-Himalaja-Gebirges hinauf auf die einzige Straße, die ins Landesinnere führt. Vom Garten des Kharbandi-Klosters, wo ein verschlafener Mönch uns die mit buddhistischen Heiligen bemalten Innenräume des Tempels gezeigt hat, werfen wir einen letzten Blick auf Indien.
Die Straße windet sich weiter durch Wälder und durch terrassierte Felder, die ehemals aus Nepal eingewanderte Reisbauern in die Berghänge geschnitten haben. Auf einem Subkontinent, in dem ackerbare Böden Mangelware sind, sind die spärlich besiedelten Berghänge Bhutans bei den nepalesischen und indischen Bauern äußerst beliebt. Die bhutanesische Regierung hat daher alle Mühe, der Bauernansiedlung Einhalt zu gebieten, um an dem Staatsziel – 60 Prozent der Staatsfläche unter Naturschutz zu stellen und somit die vielfältige Flora und Fauna zu schützen – festzuhalten.
Die Fahrt von der Grenze zur Hauptstadt Thimpu über Bergpässe und durch Schluchten an dem Wang-Chu-Fluss entlang ist atemberaubend. Pema Wangdi hat ein Lächeln auf den Lippen, während er den kleinen Mitsubishi-Bus souverän über die Straße lenkt. Er verlässt nicht gerne seine Heimat, sagt er, außerdem seien die Straßen in Indien schlecht. Wir fahren an Straßenarbeitern vorbei, die von Arbeitsvermittlern in den Dörfern Nepals und Indiens angeworben werden und in kleinen Hüttenkolonien am Straßenrand wohnen. Dass wir möglichst unholprig nach Thimpu fahren können, ist ihrem unermüdlichen Einsatz zu verdanken, auch wenn ihr Los nicht gerade glücklich genannt werden kann. Die Fahrt dauert nur fünf Stunden.
Vor ein paar Jahrzehnten dauerte die Reise sieben Tage. Im Jahr 1958 reiste der ehemalige indische Premierminister Nehru auf Pferde- und Yakrücken und zu Fuß nach Thimpu, um den damaligen König Bhutans von dem Straßenbauprojekt zu überzeugen, das die Abgeschiedenheit des Königreiches ein für alle Mal beenden sollte. Die Chinesen waren gerade in Tibet – mit dem Bhutan die nördliche Grenze und vor allem die lamaistische Kultur teilt – einmarschiert. So war es für Nehru nicht allzu schwer, den König davon zu überzeugen, dass eine enge Bindung an Indien sein Land vor einem ähnlichen Schicksal bewahren würde. Die 900 Kilometer lange Straße, die von Phuntsholing ins Landesinnere führt und die einzelnen ehemals schwer zugänglichen Quertäler miteinander verbindet, um in dem östlichen Ort Samdrup Jongkhar wieder in Indien zu münden, ist ein Geschenk des Staates Indien. Viele Bhutanesen heute sind nicht allzu glücklich über die enge Bindung an Indien, auch weil die Straße nicht ganz zufällig parallel zur chinesischen Grenze verläuft und vom indischen Militär unterhalten wird.
Bhutan ist das einzige unabhängige buddhistische Königreich der Welt, ein Land gerade so groß wie die Schweiz, aber mit knapp eineinhalb Millionen Einwohnern. Eingekesselt zwischen den beiden konkurrierenden Großmächten Indien und China ist es Bhutan trotzdem gelungen, seine politische und kulturelle Eigenständigkeit zu bewahren. Gewiss geht dies nicht ohne eine starke Identitätsbildung im Inneren und eine taktvolle und vorsichtige Öffnung nach Außen. Dem jetzigen König Jigme Singye Wangchuk ist beides vorläufig gelungen. Als er 1974 den Thron bestieg, war das Land noch weitestgehend von der Außenwelt abgeschnitten. Die ersten Besucher durften auf Einladung des Königs an seiner Krönungszeremonie teilnehmen; seitdem tut die Regierung alles, durch eine restriktive Einreisepolitik und durch konsequente Verweigerung, eine touristische Infrastruktur aufzubauen, die Zahl der Besucher auf circa 5.000 zu begrenzen.
Dem Einfluss der Moderne mit den bekannten Problemen der Übervölkerung, Umweltzerstörung und dem Identitätsverlust sieht Bhutan mit Skepsis zu. Es ist dem offensichtlichen Bemühen des Staates anzumerken, die Irrwege des Kontinents von Manila bis Kathmandu zu vermeiden. Thimpu ist die einzige mir bekannte Hauptstadt der Erde, in der es keine Straßenampeln gibt. An den drei Straßenkreuzungen stehen uniformierte Straßenpolizisten und regeln mit tänzerisch anmutenden Armbewegungen den wenigen Verkehr, während bhutanesische Bauern, die zu den jährlich stattfindenden Klostertänzen gekommen sind, ihnen Beifall zollen.
In Thimpu befindet sich eine der wichtigsten Dzongs – befestigte Kloster- und Verwaltungsanlagen – des Landes, und wir haben das Glück, zugegen zu sein, während im Innenhof des Dzongs die mehrtägigen Tänze stattfinden. Im lamaistischen Buddhismus spielen die Tänze vor allem eine religiöse Rolle, denn es heißt, dass schon der heilige Padmasambhava, ein buddhistischer Meister aus Indien, im 8. Jahrhundert die Bevölkerung Tibets und Bhutans dadurch bekehrt habe, dass er die einheimischen Bon-Priester durch seine magischen Tänze besiegte. Insofern sind die jahrhundertalten Formationen ein Teil des religiösen Rituals der Buddhisten. Wir Touristen bleiben nicht unbeeindruckt von den bunten Kostümen und den vielfältigen Masken, die bei dieser Gelegenheit zum Einsatz kommen. Am Abend im Hotel verfolgen uns die kosmischen Muster, die die Tänzer tagsüber mit ihren Füßen auf den Boden gezeichnet haben, und plötzlich scheint mir logisch, dass die Bewegungen, die wir auf der Erde machen, unsere Stimmung auf dieser Erde beeinflusst.
Am nächsten Morgen überqueren wir den 3.116 Meter hohen Dochu-La-Pass, und ich fühle mich wie in einen Sven-Hedin-Buch. Unterhalb des Passes lasse ich mich von Pema Wangdi aussetzen, damit ich zu Fuß hinauflaufen kann. So wie die früheren Reisenden – die Händler, Wanderheiligen und Neugierigen – es getan haben, als es die Straße noch nicht gab. Lange Gebetsfahnen säumen den Weg, und unterhalb der Wasserfälle, die durch den Morgennebel schimmern, läuten leise die Glocken der wasserbetriebenen Gebetsmühlen. Die Monsunwolken haben sich zwischen den Bergen verfangen, und die Donnerschläge, die ab und zu die Stille ausfüllen, hören sich tatsächlich an wie das Brummen eines Drachen. Nicht umsonst heißt das Land in der einheimischen Sprache Druk-Yul – Land des Donnerdrachen. Oben am Pass wartet der Bus neben der einsamen Stupa, und Pema Wangdi schiebt ein paar Duftholzzweige in einen Weihrauchofen am Straßenrand, damit unsere Weiterreise erfolgreich verläuft. Es fällt mir überhaupt nicht schwer zu glauben, dass die ganze Welt eine geheime, magische Bedeutung in sich trägt.
Als wir auf der anderen Seite hinabzusteigen beginnen, scheinen die dunklen Felsen und die Schluchten im Nebel zu schwimmen wie auf einer chinesischen Malerei. Unten im Tal angekommen, brechen die ersten Sonnenstrahlen durch die Wolkendecke und scheinen auf die bemalten Wände und Dächer der Fachwerkhäuser, auf denen rote Chillischoten leuchten, die hier zum Trocknen ausgelegt sind.
Mir fallen die großen fliegenden Phallus-Zeichen an den Häuserwänden auf, die von den Leuten als Andenken an einen der beliebten Landesheiligen bemalt wurden. Es heißt, der Wanderheilige hatte nicht nur übernatürliche Kräfte, er war auch ein himmlischer Liebhaber. Die Frauen des Landes ließen damals als Einladungszeichen phallusähnliche Holzpflöcke vor ihren Häuser aufhängen, auch um anzudeuten, dass der Ehemann sich gerade außer Haus befindet.
Der Flughafen von Paro ist der einzige Flughafen des Landes, und wer über Land einreist, muss mit einem der drei 70-Sitz-Flugzeuge der staatlichen Fluggesellschaft Druk-Air wieder ausreisen. Während wir auf unseren Flug nach Kathmandu in Nepal warten, denke ich mit Wehmut zurück an die letzten Tage, die Täler, die fantastischen Dzongs und Tempel, die kleinen Städte und die kristallklaren Flüsse.
Ich muss auch an Kathmandu denken, eine Stadt, die im Müll erstickt und in der kleine Kinder bettelnd hinter Touristenscharen herlaufen. In Bhutan dagegen konnten wir die typischen Geißeln der anderen asiatischen Staaten – moderne Armut, Umweltzerstörung und verkrustete soziale und religiöse Strukturen – nicht wahrnehmen. Man nimmt es dem jungen König durchaus ab, wenn er davon spricht, dass es die oberste Priorität des Staates ist, nach „Bruttoinlandsglück“ zu streben. Naiv mag es einem erscheinen, wenn ein „armes“ Himalaja-Land sich weigert, aus dem gegebenen Potenzial des Landes Kapital zu schlagen, z. B. durch die Förderung von Großindustrien oder dem Tourismus. Laut Shun-Ichi Mutara jedoch, dem japanischen Leiter des UNDP in Bhutan, ist das Land ein Musterland, von dem nicht nur Entwicklungsländer lernen können.
Mutara kann sein Argument sogar mit Zahlen untermauern: Das Pro-Kopf-Einkommen der Bhutanesen ist laut UN-Statistik von 61 US-Dollar im Jahre 1961 auf 551 US-Dollar gestiegen und ist somit das höchste eines südasiatischen Landes. Ebenso ist die Zahl derer, die lesen und schreiben können, von unter 5 Prozent in den 60er Jahren auf 59 Prozent gestiegen.
Bisweilen fühlt man sich als Reisender allerdings an das gallische Dorf erinnert, das als einziges Widerstand leistete, und man kommt nicht umhin, mit Unbehagen zu fragen, wie lange so ein kleines Land gegen den Strom schwimmen kann. Der schwere Atem der beiden großen Nachbarländer weht über das kleine Drachenland, und auch wenn dieser keine Gefahr darstellte, stehen andere Gefahren bereit. Wie lange kann das Land tatsächlich die Tourismusindustrie aufhalten, die Kunsträuber, Forstwirtschaft, Beton- und Plastikindustrien vom Leib halten? Wie lange kann man Satellitenschüsseln verbieten?
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