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Kapitelweise Abschied

■ „Von Asche zum Leben“: Lucille Eichengreen liest heute im Korczak-Haus

Cecilie Landau ist 16 Jahre alt, als zwei Gestapo-Männer an der Wohnungstür ihrer Familie in Hamburg klingeln. Achtlos werfen sie eine Zigarrenkiste auf den Küchentisch, die die Asche ihres in Dachau ermordeteten Vaters enthält. Nur wenige Monate später wird sie zusammen mit ihrer Mutter, ihrer jüngeren Schwester und mehr als tausend Hamburger Juden ins Ghetto Lodz deportiert.

In ihrem neuen Buch „Von Asche zum Leben“ schildert Cecilie, die heute Lucille Eichengreen heißt, mit nüchternen Worten die Geschichte ihres Überlebens. Während ihrer Pubertät erlebte sie am eigenen Leib den allmählichen Prozess der Ausgrenzung und Diskriminierung der jüdischen Bevölkerung in Deutschland. Im Ghetto wird die Tochter einer gutsituierten jüdischen Kaufmannsfamilie mit Armut, Elend und Hunger konfrontiert. Acht Personen teilen sich einen ungeheizten Raum, es gibt keine Toilette und kein fließend Wasser. In dem vollgepferchten abgeriegelten Ghetto häuft sich der Müll, Ungeziefer und Typhus verbreiten sich. Schließlich müssen Cecilie und ihre Schwester Karin mitansehen, wie die Mutter einen langsamen Hungertod stirbt. Bald darauf wird Karin ins Vernichtungslager deportiert. Die Schuldgefühle lassen Cecilie ihr Leben lang nicht mehr los. Sie selbst wird im Sommer 1944 nach Auschwitz transportiert. Erst hier, bei der entmenschlichenden Einlieferungsprozedur, erhält sie eine Ahnung vom Ausmaß der Vernichtungsmaschinerie. Sie überlebt die Selektion und wird zur Zwangsarbeit nach Hamburg verfrachtet. Die Befreiung erlebt sie in Bergen-Belsen. Bevor sie Ende 1945 in die USA emigriert, arbeitet sie für die britische Besatzungsmacht und hilft bei der Festnahme von 42 SS-Bewachern des Konzentrationslagers Neuengamme. Kapitelweise nimmt Lucille Eichengreen Abschied, zuerst von ihrer zunächst noch unbesorgten Kindheit, vom Vater, von der Mutter und der Schwester. Schließlich zeichnet sie mit unsentimentaler, klarer Sprache ein lebendiges Bild des Alltags im Ghetto und in den Vernichtungslagern. Im letzten Kapitel setzt sie sich mit ihrer Enttäuschung über den Umgang mit der NS-Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland auseinander. Die Shoah ist das schlimmste Verbrechen in der menschlichen Geschichte. Niemals können Worte die Dimensionen der fabrikmäßigen Vernichtung von Menschen in den Todeslagern beschreiben. Nur die Überlebenden tragen die Bilder in sich und können uns mit ihren Autobiographien einen Eindruck der Geschehnisse vermitteln. Nina Gessner

Heute abend, 20 Uhr, liest Lucille Eichengreen im Janusz-Korczak-Haus (Osterdeich 6). Der Hamburger Historiker Wilfried Weinke gibt eine Einführung. „Von Asche zum Leben“ (mit einem Vorwort von Ralph Giordano) ist im Bremer Donat-Verlag erschienen. Es kostet 29.80 Mark.

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