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Die Hoffnung stirbt langsam, mit jeder Stunde

Hunderte Feuerwehrleute, aber auch viele Freiwillige suchen in den Trümmern des WTC nach Überlebenden. 5.000 Menschen werden noch vermisst

NEW YORK taz ■ Betty P.* hält ihre Tochter Ruth fest im Arm. Die Kleine ist erst neun Monate alt. Sie schaut aus großen braunen Augen den Fremden an. Sie lächelt nicht, ihre Arme sind angewinkelt. Ihre Hände umklammern den Daumen ihrer Mutter. Sie versteht nicht.

Mama Betty hat am Dienstag um 8.42 Uhr aufgehört zu lachen. Die Augen der 21-Jährigen sind wundgeweint. Ihre Hornbrille drückt auf ihrer Stupsnase. Die Fenster zu ihrem Apartment in der Lower East Side sind zugezogen. Bettys Mann Robert war in der 106. Etage des Nord-Turms, als das erste Flugzeug am Dienstag in die 96. Etage des Wolkenkratzers einschlug.

Noch hat Betty Hoffnung. „Ich weiß, wir werden ihn finden.“ Sie zeigt ein Foto von Robert. Er hat glatte, dunkelbraune Haut und ein breites Lächeln, in dem die weißen Zähne blitzen. Das schwarze, lockige Haar trägt er kurzgeschoren, um seinen Hals hängt eine goldene Kette. Bettys Hoffnung stirbt, jede Stunde ein bisschen. Robert war IT-Techniker für den Finanzkanal Bloomberg TV. Der 21-Jährige hatte einen Arbeitsplatz am Fenster.

Hunderte Feuerwehrleute, Polizisten, Bauarbeiter und Freiwillige kämpfen gegen die Trümmer im Finanzdistrikt. Sie kommen nur langsam mit schweren Gerät voran. Ein Feuerwehrmann ist niedergeschlagen. „Ich glaube nicht, dass wir noch jemanden lebend bergen können“, sagt er. „Wer nicht sofort gestorben ist, ist erstickt oder im Schlamm ertrunken.“

DNA von der Zahnbürste

New Yorks Bürgermeister Rudolph Giulinai hält die Hoffung wach. „Wir müssen weiter nach Überlebenden suchen. Unsere ganze Kraft muss dem Ziel gelten, noch Menschen zu retten. Wir dürfen nicht ruhen.“ Seine Stimme zittert, als er die aktuellen Zahlen bekannt gibt. „Wir haben 184 Leichen geborgen. 74 konnten bereits identifiziert werden. Wir haben außerdem einige hundert Leichente . . .“ Giulini sucht nach Worten. Senkt den Kopf. „Verzeihen sie mir das Wort . . . Leichenteile geborgen. Es ist schwer auszusprechen. Aber das ist die Realität.“ Nach letzten Zahlen werden über 5.000 Menschen unter den Trümmern vermisst.

Ronald P. ist der Vater von Robert. Er war am Donnerstag in der Polizeistation an der Lower East Side. Als Robert noch ein Kind war, hat Ronald hier Fingerabdrücke von seinem Jungen nehmen lassen. Damit man ihn wiederfinden kann, falls er entführt wird. Ronald hat eine Kopie der Fingerbdrücke zur zentralen Vermisstenstelle an der Lexington Avenue gebracht. Zusammen mit Roberts Zahnbürste. Betty war zu schwach, um den Weg zu gehen. „Ich muss bei meiner Tochter bleiben,“ sagt sie. „Ich muss mich um sie kümmern. Sie erinnert mich so an ihren Vater . . .“ Betty hofft, die Fingerabdrücke und die DNA an der Zahnbürste helfen, ihren Mann zu identifizieren, falls er schwerverletzt in einem Krankenhaus liegt. Und nicht sprechen kann.

Ronald hat eine Vermisstenanzeige von seinem Jungen gemacht. Darauf: das Foto Roberts, seine Daten, und die Nummer der Etage, in der er zuletzt war. Ganz unten steht groß die Handynummer Ronalds und die Bitte. „Wenn Sie Robert gesehen haben, rufen Sie bitte sofort diese Nummer an.“ Seine Familie und Freunde haben Kopien überall in der Stadt aufgehängt.

„Betet für ihn“

Auf einer großen Tafel am Union Square hängen dutzende solcher Suchanzeigen. Hier versammeln sich jeden Tag hunderte New Yorker. Ein grauhaariger Mann schlägt eine dumpfe Trommel. Er schlägt monoton, wie ein Herz, das langsam weiterhämmert, in Hoffung, in Schmerz. Die Menschen schweigen. Vor dem Denkmal von George Washington hängt ein übermannsgroßes Bild der Twin Towers. Darauf steht, „Wir werden überleben.“ Kerzen stehen in einem großen Kreis. An einem Zaun hängen Vermisstenanzeigen. Der von Edward Martinez ist anders. Auf ihm ist nur das Foto eines lachenden Mannes. Keine Telefonnummer, kein Alter, kein Arbeitsplatz. Nur eine Zeile. „Betet für ihn.“

Betty hat drei Anrufe bekommen von Roberts Arbeitgeber Michael Bloomberg. Der Medientycoon will Bürgermeister von New York werden. Er ist der designierte Kandidat der Republikaner im Wahlkampf um die Nachfolge von Rudolph Giuliani. Bloomberg hat versprochen, Betty zu besuchen. Betty will davon nichts wissen. „Ich will den Namen der Firma nicht hören. Es bringt mich um, wenn ich daran denke, dass sie ihn da oben eingesetzt haben.“ Sie ist froh darüber, dass sich viele Verwandte, Freunde und Bekannte bei ihr melden, ihr zusprechen, sie zu trösten versuchen. „Ich hatte schon die Hoffung verloren“, sagt sie. „Nun hoffe ich wieder.“ Sie küsst zärtlich die dünnen Haare ihrer Tochter.

DAVID SCHRAVEN

* Alle Namen von der Red. geändert

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