: Zurück zum Mythos
Angebliche Enthüllungen wollen belegen, dass ein deutscher Offizier das Pogrom im polnischen Jedwabne geleitet haben soll. Dabei beruhen sie auf Missverständnissen und Verdrehungen
von GABRIELE LESSER
Es war dem unscheinbar wirkenden Büchlein mit dem Titel „Nachbarn“ nicht anzusehen, dass es die größte und wichtigste Nachkriegsdebatte Polens auslösen würde. Auch seinem Autor, dem in New York lehrenden Historiker und Soziologen Jan Tomasz Gross, war nicht klar, dass er mit der Schilderung eines Pogroms im nordostpolnischen Städtchen Jedwabne im Jahre 1941 eine – wie es eine polnische Zeitung schrieb – „Atombombe mit Zeitzünder“ geworfen hatte, die das polnische Geschichtsbild innerhalb weniger Monate zum Einsturz bringen sollte. Plötzlich tauchten schockierende Fragen auf: „Haben wir unsere eigenen jüdischen Nachbarn ermordet? Haben wir im Zweiten Weltkrieg mit den Deutschen kollaboriert? Sind wir Mörder?“
Dass nun aber mit dem Erscheinen des Buches in deutscher Sprache ausgerechnet ein deutscher Journalist versucht, den alten Geschichtsmythos Polens als Opfernation wiederzubeleben, löst in Polen fast nur noch Kopfschütteln aus. Mit seinem Artikel über den Obersturmführer Hermann Schaper, der angeblich die „Judenvernichtungsaktion“ in Jedwabne geleitet haben soll und damit als Haupttäter zu gelten habe, hat sich der Polen-Korrespondent der Süddeutschen Zeitung, Thomas Urban, auch auf die Titelseite von Polens führender antisemitischer Zeitung Mysl Polska katapultiert. Unter der Schlagzeile „Ein Deutscher demaskiert Gross“ zitiert das Blatt auf Seite 7 ausführlich die „Enthüllungen“, die die Süddeutsche und die konservative Rzeczpospolita zum Jahrestag des deutschen Überfalls auf Polen publiziert hatten.
Lob für den SZ-Artikel („Sie kamen – und sie sprachen Deutsch. Neue Fakten sprechen dafür, dass SS-Hauptsturmführer Hermann Schaper die „Judenvernichtungsaktion“ in Jedwabne geleitet hat“) gab es aber auch in Deutschland. Stephanie Peter sprach in der FAZ gar von einem „Musterstück des investigativen Journalismus“, da Thomas Urban den „Regisseur der Geschehnisse von Jedwabne nahezu steckbriefartig dingfest“ gemacht habe: „Es ist der SS-Hauptsturmführer Hermann Schaper.“ Auch Thomas Medicus von der Frankfurter Rundschau kann den SZ-Journalisten gar nicht genug loben, der mit seinen Recherchen die „geschichtspolitisch wirksamen Be- und Entlastungen“ Jan Tomasz Gross’ stark relativiert habe. Die Bewohner Jedwabnes, schreibt Medikus am 11. September, seien „von Anfang an“ überzeugt gewesen, dass die Entschuldigung Staatspräsident Kwásniewskis am 60. Jahrestag des Pogroms eine „Demutsgeste“ gewesen sei, die „zu groß ausgefallen“ war.
Hätten sich die beiden Autoren die Mühe gemacht, auch nur einen der „Beweise“ Thomas Urbans zu überprüfen, hätten sie schnell gemerkt, dass die „neuen Fakten“ schon im April und Mai bekannt waren und die sensationellen Enthüllungen vor allem auf Missverständnissen und offensichtlich auch auf bewussten Verdrehungen beruhten. Schon eine kurze Anfrage bei der Zentralstelle der Landesjustizverwaltungen in Ludwigsburg nämlich lässt die Ausgangsthese Urbans in sich zusammenstürzen. In den Ermittlungsakten steht gerade nicht, wie Urban schreibt, dass nach Ansicht des Amtsgerichtsrates Opitz „das Kommando Schapers auch für den Massenmord von Jedwabne verantwortlich war“. Die Aussage eines Zeugen, der „gehört hatte“, dass Schaper möglicherweise zwei Monate vor dem Mord an den Juden von Rutki in Jedwabne gewesen sei, reichte nicht einmal aus, um überhaupt nur einen Tatverdacht zu formulieren. An anderen Tatorten in der Umgebung von Jedwabne gab es zwar Anhaltspunkte für einen Verdacht, doch auch die reichten nach Aktenlage nicht aus, um Schaper vor Gericht zu bringen.
Auf diesem Wissensstand ist seit April auch der polnische Historiker Edmund Dmitrow, der in der Bialystoker Zweistelle des Instituts für das Nationale Gedenken (IPN) an der Rekonstruktion des Verbrechens vom 10. Juli 1941 in Jedwabne arbeitet. Auch er gibt offen Auskunft: „Die These, dass Hermann Schaper in Jedwabne war, kann man aufstellen, nur lässt sie sich nicht belegen.“ Urban gibt in seinem Artikel in der Süddeutschen dann zwar auch zu, dass die Archivmaterialien „keinen eindeutigen Beweis“ für die „entscheidende Rolle“ der deutschen Besatzer bei der Ermordung der Juden von Jedwabne liefern würden, doch sei dieser Beweis im Mai bei der Exhumierung der Pogromopfer in Jedwabne gefunden worden: „in Form von fast 100 Patronenhülsen sowie einigen Gewehr- und Pistolenkugeln“. Die Munition, so Urban, „stammt von deutschen Mauser-Karabinern sowie von einer Walter-Offizierspistole“.
Im IPN, auf das sich Urban beruft, weiß aber niemand etwas von „deutscher Munition“. Alicja Chojnowska von der Pressestelle sagt: „Noch liegt uns die Expertise gar nicht vor. Die kriminologischen Untersuchungen sind noch gar nicht abgeschlossen.“ Darüber, dass die Untersuchungen sich so lange hinziehen, gibt es unter Historikern in Warschau Spekulationen, die – sollten sie sich als zutreffend erweisen – völlig neue Untersuchungen nötig machen würden. Die Hülsen seien in der obersten Aschenschicht des Massengrabs gefunden worden, ohne aber Brandspuren aufzuweisen. Dies könne bedeuten, dass jemand die Hülsen später in die Asche geschüttet habe. Problematisch sei auch das Produktionsdatum. Hier kursieren mehrere Gerüchte. Dem einen zufolge stammen die Hülsen aus dem Jahre 1938, dann sei schwer zu rekonstruieren, wer mit ihnen geschossen habe, da auch die Sowjets in den ersten anderthalb Jahren des Hitler-Stalin-Paktes mit deutscher Munition geschossen hätten. Dem zweiten Gerücht zufolge handelt es sich ohnehin um sowjetische Munition, und dem dritten zufolge sind die übrigen gefundenen Kugeln bereits im Ersten Weltkrieg abgeschossen worden. Relativ sicher, so sagen alle Historiker übereinstimmend, sei bislang nur die Herkunft einer einzigen Kugel, mit der tatsächlich im Zweiten Weltkrieg deutsche Offizierspistolen geladen waren.
Die „Sensation“, die dieser Munitionsfund in der polnischen Presse angeblich hervorgerufen hatte und von der Urban bereits in einem früheren Artikel berichtet hatte, beschränkte sich daher auf die Schlagzeile in der konservativen Tageszeitung Zycie: „Hat ein deutscher Offizier geschossen?“ Ohne das Ergebnis der Expertise gibt es keinen Beweis für welche auch immer geartete These zum genauen Ablauf des Pogroms.
Zu denken gibt auch, dass keiner der Zeugen – weder Täter noch Überlebende des Massakers – sich an Schüsse erinnern konnte. In der dem Artikel in der Süddeutschen beigefügten Chronologie zum Ablauf des Pogroms heißt es unmissverständlich, dass die Juden von Jedwabne am 10. Juli 1941 „durch das vom SS-Obersturmführer Hermann Schaper geführte Einsatzkommando Zichenau-Schrötersburg (Ciechanow-Plock)“ sowie durch eine „Gruppe katholischer Einwohner des Städtchens und anderer Orte“ ermordet worden seien. Der Historiker Andrzej Zbikowski vom Jüdischen Historischen Institut in Warschau kennt die Akten aus Zichenau-Schrötersburg und sagt: „Das Gebiet ist sehr gut erforscht, weil der Aktenbestand vollständig erhalten ist. Die Unterschrift Schapers taucht aber erstmals 1943 auf. Für Verbrechen, die in dieser Zeit begangen wurden, konnte Schaper auch später verurteilt werden.“ Zbikowski, der Anfang nächsten Jahres ein Buch über rund 30 Pogrome veröffentlichen wird, die Polen kurz nach dem Einmarsch der Deutschen 1941 in Ostpolen an Juden verübten, wirft Urban schlampiges Recherchieren vor: „In Tykocin haben wir es mit einer Massenexekution zu tun. Hier haben Deutsche Juden erschossen. In Radzilow aber haben Polen ihre jüdischen Nachbarn in einer Scheune verbrannt, so wie auch in Jedwabne. Das waren also Pogrome. Für Urban ist das alles eins.“
Die Zahl von 1.600 Opfern in Jedwabne müsse allerdings tatsächlich nach unten korrigiert werden, so Zbikowski. Der Bürgermeister von Jedwabne habe 1945 auf dem Formular „Kriegsverluste“ genau diese Zahl eingetragen, der wichtigste Zeuge Szmuel Wassersztajn habe diese Zahl genannt, und auch auf dem Gedenkstein habe sie jahrzehntelang gestanden. Die Exhumierung habe aber eine Schätzzahl von 250 bis 400 Opfern ergeben, die in der Scheune verbrannt seien. Da aber die Exhumierung auf Grund eines religiösen Protestes polnischer Juden nicht vollständig durchgeführt worden sei, werde man die genaue Zahl der Opfer nie erfahren. Sie sei in Jedwabne jedoch in jedem Fall höher als in allen anderen Orten in der Umgebung.
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