So fern und so nah

Musikfest schließt mit langen Fernweh-Nächten in bewegten Bildern und Tönen  ■ Von Andi Schoon

Als Karlheinz Stockhausen am Sonntagabend die New Yorker Anschläge als „größtes Kunstwerk aller Zeiten“ bezeichnete (siehe taz vom 19.9.), wurde deutlich, dass er geistig in einer völlig anderen Welt lebt. Manch einer träumt dieser Tage davon, an einen unberührten Ort zu entschwinden, an dem die Realität und ihre Bedrohungen außer Kraft gesetzt sind. Für viele Künstler gehört die Suche nach unberührten Plätzen sogar zum Be-rufsethos. Auch György Ligeti hat in seinen Kompositionen die Welt, wie wir sie kennen, oft weit hinter sich gelassen. Von Stockhausen unterscheidet ihn, dass er immer wieder zurückgekehrt ist.

György Ligeti ist einer der Künstler, die heute bei der Langen Nacht des Fernwehs zu Ehren kommen werden. Das Amsterdamer ASKO-Ensemble spielt seine farbenreichen Ramifications zwischen Stücken von Claude Vivier und Mauricio Kagel. Während Kagel in seinen Stücken der Windrose halbwegs bodenständig demons-triert, wie sich Kulturen musikalisch vermischten, überwiegt bei Vivier abermals das außerweltliche Interesse. Vivier wurde bekannt für Werke von großer struktureller Klarheit, in denen der metaphysischen Sinnsuche die Erfüllung des Öfteren verwehrt bleibt. Im Verlauf des Abends werden des Weiteren der schamlose Stil- und Epochenmix des Ensembles Oni Wytars sowie die Installation Alien City zu besichtigen sein. Wer danach noch immer nicht genug hat, kann sich ein Taxi nehmen und zum Abaton fahren, um in Kubricks 2001 – Odyssee im Weltraum noch einmal den verzwirbelten (Filmmusik) Klängen von Ligeti zu lauschen.

Zum Abschluss des Musikfests werden am Sonnabend die NDR-Sinfoniker unter der Leitung von Michael Boder noch einmal tief in die klassische Avantgardekiste greifen. Neben Igor Stravinsky stehen Carl Ruggles und Harry Birtwistle auf dem Programm. Birtwistle ist ein schweigsamer Mensch aus dem Norden Englands, der in seinen Earth Dances beschreibt, wie die Industrialisierung die ländliche Idylle seiner Heimat verdrängte.

Wo Birtwistle von der Erde erzählt, da geht es bei Ruggles ins Zentrum der Sonne. Über dessen Musik hat Charles Ives einmal geäußert, sie sei so maskulin, dass man seine Ohren während des Lauschens wie ein Mann benutzen müsse. Auch wenn sich diese Einschätzung nach heutigem Verständnis wenig reizvoll anhören mag, wollte Ives damit seinen Res-pekt vor den harschen Klängen des befreundeten Eigenbrötlers zum Ausdruck bringen. Ruggles 16-minütiges Sun Treader protzt mit gewaltigen Ausbrüchen und verschiedenen Dissonanzabstufungen, auf deren Auflösung man lange warten kann.

Im Gegensatz zu Birtwistle und dem fast vergessenen Ruggles, braucht zu Stravinskys Le Sacre du Printemps nicht viel gesagt zu werden. Das Stück steht musikalisch für die Emanzipation des Rhythmus und anekdotisch für den größten Eklat der Theatergeschichte. Bei der Pariser Premiere 1913 gab es 27 Verletzte. Der Balletttänzer Nijinsky hatte versucht, eine Choreographie auszuarbeiten. Während des Auftritts stand er hinter der Bühne und klatschte, um seinem Ensemble den Taktschwerpunkt zu verdeutlichen. Umsonst. Seit der Uraufführung hat es nie wieder jemand gewagt, zu diesem Klassiker der Moderne zu tanzen. Als Musikstück jedoch fand es Eingang in den Konzertkanon. Zwischen Innovation und Skandal wird auch das Hamburger Musikfest ein hoffentlich würdiges Ende finden.

Stationen der Langen Nacht des Fernwehs am Freitag:

18 Uhr, Musikhalle (Brahms-.Foyer): Alien City: Installation mit Performance

19 Uhr, Musikhalle (Großer Saal): ASKO-Ensemble. 21 Uhr (Kleiner Saal): Ensemble Oni Wytars. 23 Uhr (Großer Saal): wieder ASKO-Ensemble. 24 Uhr, Abaton-Kino: 2001 – Odyssee im Weltraum

Abschlusskonzerte am Sonnabend:19 Uhr, Musikhalle (Kleiner Saal): Simon Nabatov/Han Bennink-Duo. 20 Uhr (Großer Saal): NDR-Sinfonieorchester