: „Geht es dir auch so schlecht?“
Begegnung mit dem Depri-Versager. Ein Porträt des leidenden Wesens in Krisenzeiten
Nichts gegen eine vernünftige Depression. Wenn es draußen dunkler und kühler wird, kann es sehr angenehm sein, ein Tal zu durchschreiten. Nichts auch gegen wahre Versager. Die allemal menschlicher sind als breitbrüstige Erfolgsfiguren, an denen alles abprallt. Vereint allerdings gibt es nichts schlimmeres als den Depri-Versager. Er will nur eins: Fühl dich schlecht!
Ich traf Hans-Hermann Gansekow am frühen Morgen in der U-Bahn und konnte nicht mehr ausweichen. Vor Jahren hatte ich für drei Monate eine Wohnung mit ihm geteilt. In der traurigen Gestalt mit ihrer Breitcordeleganz schwang jetzt seine ganze Geschichte mit: Studium abgebrochen, Krankheit und so weiter. Es sollte ja nur eine Station lang dauern. Zwei Minuten.
Den ersten Fehler machte ich, als ich ihn freundlich begrüßte. Am frühen Morgen Freundlichkeit – das ließe sich doch leicht ändern. „Und? Wie ist die Lage?“, fragte ich. „Die erste Firma hat sich als Projekt herausgestellt, das ist nichts. Und bei der zweiten ist fraglich, ob der Aufgabenbereich so bleibt. Das waren die einzigen Angebote.“ War ich schon Amerikaner in diesen schweren Zeiten, dass ich ein „Wie geht es?“ als höflich belanglose Floskel benutzte, mein Gegenüber aber auf sehr deutsche Art meinte, seine Leidensgeschichte ausbreiten zu müssen? Hatte ich gerade etwas verpasst? Ja. Ich hatte verdrängt, dass ich Gansekow bereits eine Woche zuvor getroffen hatte, und zum ersten Mal in zwei Minuten bekam ich ein schlechtes Gewissen.
Gansekow hatte Probleme im Beruf. Wie zur Erinnerung fächerte er sie im dicht gedrängten U-Bahn-Wagen noch einmal auf – sämtliche Probleme: „Ich hab nach zehn Jahren bei Milland den Job gewechselt. Du, das war ’ne Scheiß-Arbeit. Ich wurde aber von der Firma abgeworben. Dann ist der Geschäftsführer abgesetzt worden, und der Unternehmensberater hat sich zum Geschäftsführer erklärt. Eigentlich bin ich Account-Manager, aber mein Bereich hat sich total geändert. Alles ist militärisch geregelt“, drehte sich die Mühle der Beschwerden, und verblüfft entdeckte ich, dass Gansekow gar nicht ächzte unter der Last. Er trug seine Klagen mit sarkastisch fröhlicher Stimme vor. Es war der Sarkasmus der Verlierer: Dich erwischt es auch noch.
Ich beeilte mich, dem Gespräch eine neue Richtung zu geben: „Du hattest dich doch gut spezialisiert.“ – „Spezialisiert ist gut“, höhnte Gansekow. „Du, ich muss meinen Lebensunterhalt verdienen.“ Ich starrte auf den vorbeiziehenden Beton, der auch keine Rettung bot.
Gansekow bemerkte mein Schweigen und lenkte pflichtschuldig sein Thema auf mich: „Und ist dein Job auskömmlich?“ Ich habe keinen Job, sondern eine Arbeit, antwortete ich ihm. Hätte es jedenfalls gern getan, stattdessen murmelte ich nur ein schlichtes „Ja, doch“. – „Oder hast du Ärger?“, bohrte er freudig nach. Ärger? Ein wenig, aber auch viel Spaß. Doch wenn es ihm gut tun würde . . . „Ja, es ist gerade nicht leicht, ich werde den ganzen Tag beschimpft.“ – „Von Vorgesetzten oder Kollegen?“, schoss es aus der Leidenskanone. Der Depri-Versager ist der Mittelpunkt der Welt. Alles Leid versammelt sich auf seinem Haupt, hinterm engen Horizont existiert keine andere Lebensform. „Nein, von Lesern“, brummte ich leicht ungehalten über die absurde Vorstellung, von Vorgesetzen oder Kollegen beschimpft zu werden. „Ach so“, tat Gansekow die Antwort ab. „Wegen der Weltkrise und unserer Antwort darauf“, versuchte ich mit dem ganzen Grauen ein Bollwerk gegen den kleinen Schmerz zu bauen. Wir fuhren in den U-Bahnhof ein. Luft.
„Die Weltlage, ja, ja. Aber ich werd mal versuchen, heute eine andere Firma anzurufen. Ich hab gehört, da ließe sich was machen“, bollerte Gansekow ungerührt auf mich ein, während wir die Treppe hinaufstiegen. Stand nicht gerade ein Weltkrieg bevor? Waren dafür tausende Menschen in New York gestorben, dass ich mich jetzt schlecht fühlte, weil der Depri-Versager dies, und ich war mir ziemlich sicher, kaum wahrgenommen hatte? Er saß immer noch zu Hause und legte schwermütige Platten auf. Nachrichten, ach was. Wozu?
Gansekow litt am Ende der Treppe unter Atemnot und schwieg für einen Augenblick. Jetzt konnte ich ihm alles sagen über ihn und den Mittelpunkt der Welt. „Ich muss da rüber“, presste ich nur heraus. „Ich komm noch ein Stück mit. Bevor ich zu diesem Scheiß-Job gehe, drehe ich immer noch eine Runde um den Block“, hauchte er in den kalten Regen. Ich trottete neben ihm her und lief an der gewohnten Eingangstür vorbei. „Musst du nicht hier rein?“, stoppte Gansekow, und ich schämte mich, weil ich kurz gedacht hatte, ich müsste ihm für immer folgen, Account-Manager werden und mich von Vorgesetzten und Kollegen beschimpfen lassen. Schlagartig erkannte ich: Nichts hasste der Depri-Versager mehr als Veränderungen.
Gansekow legte seine Hand auf meine Schulter: „Du, geht es dir auch so schlecht?“ Ich sah ihm fest in die Augen und log: „Ja.“ Er lächelte und spazierte davon. MICHAEL RINGEL
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