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Halbwelt im Defa-Mief

Gerechtigkeit für die „Mulackritze“! Carlo Rolas Gaunerbrüderlegende „Sass“ ist ein Ausstattungsexzess, der Berlin einmal mehr als Kulisse für Metropolennostalgie zeigt

Das legendäre Lokal „Mulackritze“ befand sich, wie der Name schon sagt, auf der Mulackstraße in Berlin-Mitte. Genau dort, wo heute Dutzende von Pseudo-Klezmer-Kapellen den vermeintlichen Zeitgeist des einstigen Scheunenviertels heraufbeschwören und Touristen die Reisekassen erleichtern. An dieser Stelle gibt es keinerlei Höhenunterschiede, hier ist Berlin flach.

Nicht so in einem neuen deutschen Historienschinken namens „Sass“. In „Sass“ befindet sich die „Mulackritze“ gleich neben einer steil ansteigenden, breiten Treppe, die an die berühmte Szene aus Eisensteins „Potemkin“ erinnert oder meinetwegen an Tarkowskis Katastrophentraum aus „Opfer“. Niemals aber an die Mulackstraße. Kein Wunder. Aus Kostengründen und weil die Straßen in der Spandauer Vorstadt inzwischen zu Tode saniert sind, wurden zahlreiche Außenszenen in Prag aufgenommen. Den location scouts von Regisseur Carl Rola ist an dieser und an anderen Stellen entgangen, dass der urbane Charakter Prags ein völlig anderer ist als der Berlins. Dass beispielsweise Verwaltungsgebäude der k. u. k. Monarchie gänzlich anders aussehen als die im wilhelminischen Preußen. Doch egal – Hauptsache alt.

Mit dieser großzügigen Geste des Einvernehmens begegnet der Film auch den historischen Hintergründen seiner Geschichte. Die legendären Sass-Brüder, die in den Endzwanzigern Berlins eine Reihe von spektakulären Überfällen auf Geldinstitute unternahmen und dabei jahrelang die Polizei zum Narren hielten, dienen als bloße Marionetten einer zuckersüßen Berlin-Verklärung. Als hedonistische Halbwelt-Parvenus vögeln sich Ben Becker und Jürgen Vogel durch die Salons, während der wackere Sass-Papa (Otto Sander) von der Unterwelt totgeschlagen wird. Weil sie bei einem Raubzug Wahlkampfgelder der NSDAP an sich bringen, geraten die Brüder später ins Visier der künftigen Machthaber. Nach einem Aufsehen erregenden Prozess erfolgt zwar ihre Freilassung, doch die SA schreitet unverzüglich zur Exekution. Ein Glück, dass Franz Sass vorher noch eine Liebesaffäre mit der jüdischen Bankiersgattin Sonja Weiss hatte. Deren Mann – ausgerechnet Direktor der von den Sass-Brüdern ausgeraubten Diskonto-Bank – war kurz vorher ebenfalls von den Braunhemden ermordet worden. Nun reist die Witwe mit einem Kind von ihrem Liebhaber „unter dem Herzen“ in die Neue Welt. Kurz vor dem Abspann erklärt uns noch eine Märchenonkel-Stimme, dass dieses Kind später in Chicago zu einem wichtigen Anwalt avancieren wird.

Noch Fragen? Abgesehen von seiner arztromanhaften Konstruktion, der unablässig dudelnden Musik, abgesehen auch von historischen Vereinfachungen und Verfälschungen, vom hilflosen Versuch einer Klammerung mittels Off-Kommentar – abgesehen davon, dass „Sass“ ein einfältiger Film ist, macht sich bei seinem Konsum schlichte Langeweile breit. Die kunstgewerbliche Akribie, mit der das Berlin der späten 20er-Jahre inszeniert wurde, erinnert an den Mief von Defa-Produktionen und atmet auch deren reaktionären Geist – dabei wollte man doch offenbar ein richtig verruchtes und dekadentes Bild entwerfen.

So projiziert die geistige Provinz eine Metropole um die Jahrhundertmitte: das Leben ein Charleston, dazu Konfettischlacht und Damen-Catchen. Die Nazis als dunkle, anonyme Bedrohung dieses Tanzes auf dem Vulkan mit einem dämonischen, unsichtbaren Adolf Bin Laden im Hintergrund. Weder Aufwand noch Mühe wurden gescheut – das Knistern der verbrennenden Fördergelder ist förmlich zu hören. Jedes Oldsmobile Deutschlands fährt wenigstens einmal im Film durch die Szene, das börsennotierte Special-Effects-Unternehmen „Das Werk“ hat an seinen Rechnern wieder täuschend echte Hintergründe geriert, die Prager Sinfoniker scheuern sich die Finger wund. Keine Obsession, nirgends. „Sass“ ist nur ein ganz gewöhnlicher deutscher Film des Jahres 2001, überfinanziert und belanglos. Schließlich erhält jedes Land die Filme, die ihm zustehen. Nur die „Mulackritze“, die „Mulackritze“ hätte wirklich etwas mehr Hochachtung verdient. CLAUS LÖSER

„Sass“. Regie: Carlo Rola. Mit: Ben Becker, Jürgen Vogel, Henry Hübchen u.  a., Deutschland, 2000, 112 Min.

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