: Der Unentbehrliche
von SEVERIN WEILAND
Vielleicht ist das Otto Schilys größte Stunde. Lange hat er darauf warten müssen. Vorbei die Zeiten, als ihn in den 90ern die bayerischen Genossen auf Platz 29 der Landesliste platzierten. Nun, da die weltpolitische und die hanseatische Krise zusammenfallen, kommt sogar den Sozialdemokraten, die ihn einst so schofel behandelt haben wie früher die Grünen, ein Mann wie Schily höchst gelegen. Einer, der kühl und distanziert wirkt, einer, der den Anschein verbreitet, als wüsste er, wie der Kampf gegen den Terror zu gewinnen ist. Wer es mit einer solchen Gefahr zu tun habe, dürfe sich nicht auf „philosophische Haarspaltereien“ einlassen, hat er jüngst im Bundestag verkündet.
Schilys Popularität ist in den letzten Monaten rasant gestiegen. Daran kann auch die Partei nicht vorbei, zu der er 1990 nach seinem Austritt bei den Grünen stieß. Der innenpolitische Sprecher der SPD-Fraktion, Dieter Wiefelspütz, bringt es auf den Punkt: „In den ersten drei Jahren seiner Amtstätigkeit ist Schily sehr wichtig gewesen – jetzt ist er unentbehrlich.“
Unentbehrlich ist er vor allem für den Bundeskanzler. Der Einzige, wie ein Abgeordneter der Koalitionsfraktion erzählt, den „der Otto vielleicht wirklich respektiert“. Gerhard Schröder hat ihn schließlich bewegt, über 2002 weiterzumachen. Obwohl selbst das manche in der Fraktion bezweifeln: „Schily lässt sich nicht überreden. Der ist davon überzeugt, dass er ein Kapitel im Geschichtsbuch zu schreiben hat.“
Mit wem man in diesen Tagen in Berlin über den Bundesinnenminister spricht – die meisten wollen sich nicht namentlich zitieren lassen –, deutlich wird, dass Schily sich nicht nur Respekt verschafft hat. Er ist eine Größe, die man besser nicht offen kritisiert. Denn wer es sich mit ihm verscherzt, der verscherzt es sich auch mit dem Mann ganz oben. „Schily ist der Mann des Kanzlers“, sagt ein Abgeordneter. Vielleicht liegt es auch daran, dass der Bundesinnenminister jenes Spiel beherrscht, das in der Politik schon die halbe Ernte einbringt: hart aufzutreten. Damit erfüllt er das Bedürfnis nach Übersicht, auch wenn die Lage alles andere als übersichtlich ist. Schily lässt rhetorisch die Muskeln spielen. Im Bundestag hat er zuletzt ein schönes Beispiel dafür abgeliefert. „Datenschutz ist in Ordnung“, rief er ins Plenum, und bevor die Grünen ihre Hände zum Applaus heben konnten, fügte er hinzu: „Aber Datenschutz darf nicht zur Behinderung von Kriminalitäts- oder Terrorismusbekämpfung führen.“ Da fiel die Zustimmung besonders laut bei der Union aus, und man sah Michael Glos, den CSU-Landesgruppenchef, lachen, als wüsste er, was Schily nicht nur den Grünen, sondern auch manchen Sozialdemokraten da zumutete.
Schily, sagt ein Abgeordneter der SPD, „kennt nur ein Programm: Otto Schily“. Vielleicht ist es genau das, was die meisten verstört, wenn sie auf den wechselvollen Lebenslauf des 69-Jährigen blicken: dass er nie so recht fassbar war, wenn man ihn einzuordnen glaubte. In den 70ern Anwalt der Terroristen Horst Mahler und Gudrun Ensslin, der lautstark die Methoden der Rechtsstaats kritisierte, später ein Befürworter des großen Lauschangriffs. Einst verteidigte er das Asylrechts, später befürwortete er dessen Einschränkung. Genau diese Widersprüchlichkeit ist es, die er selbst einmal, wohl unbeabsichtigt, in einer Formulierung zusammengefasst hat: Einen „liberalen Kommunisten“ nannte er sich 1975, fügte aber hinzu, er wisse, dass „es so etwas natürlich nicht gibt“.
Manche glauben, dass Schily im Kern eines geblieben ist: ein leidenschaftlicher Jurist. Herausforderungen haben ihn immer gereizt. 1994, als ihn in der SPD kaum jemand beachtete, verteidigte er den früheren Dresdner SED-Bürgermeister Wolfgang Berghofer, der wegen Wahlfälschung vor Gericht stand. Er verlor das Verfahren, aber für einen Augenblick war Schily wieder einmal im Mittelpunkt. In Schilys Denken, sagt ein führender Grüner, gehe es eigentlich immer um den Rechtsstaat. Vielleicht ist das so. Vielleicht ist der Wandel gar nicht so dramatisch, wie er sich bei Joschka Fischer allein schon im Äußeren ablesen lässt. Wer die Bilder aus der Zeit der 70er sieht, ahnt etwas von der Kontinuität des Otto Schily. Im Dokumentarfilm „Black Box BRD“, der in diesem Jahr in die Kinos gelangte, wird in einer kurzen Sequenz die Beerdigung von Holger Meins gezeigt, der sich im Herbst 1974 zu Tode gehungert hatte. Rudi Dutschke steht da an dessen Grab, ballt die Faust und ruft seinen berühmt mehrdeutigen Satz: „Holger, der Kampf geht weiter!“ Schily dagegen bleibt stumm, bürgerlich akkurat gekleidet hebt er sich von dem Hintergrund ab, wirkt irgendwie entrückt. Diese Distanz ist geblieben – über seine Zeit bei den Grünen hinaus bis in die heutigen Tage, manche sagen: zu Freunden und Gegnern, zu Frauen und Männern gleichermaßen. Wenn man in der SPD-Fraktion fragt, wer denn Schilys Feinde seien, kann man von einem Abgeordneten folgende denkwürdige Antwort erhalten: „Feinde? Ich glaube die Frage müsste lauten: Hat er überhaupt Freunde?“
Bereits bei den Grünen, die er 1980 mit gründete, blieb er ein Außenseiter. Mit den Männern und Frauen, von denen viele aus K-Gruppen kamen, hatte er, der Sohn aus großbürgerlichen Verhältnissen, wenig gemein. Das waren nicht nur politische Differenzen, sondern auch kulturelle. Gegenüber dem Stern hat Schily 1999 eingeräumt, dass es ihn gestört habe, wenn die Freunde seiner ersten Frau Christine, einer SDS-und APO-Aktivistin, in den 60ern ihre Biergläser auf seinem Steinway-Flügel abstellten. Musikinstrumente, sagte er damals, seien ihm nun einmal „heilig“.
Das ästhetische Empfinden mag der eigentliche Grund, dass er bei den Grünen nie heimisch wurde. Es war eine Zeit, in der der politische Dissens auch äußerlich zur Schau getragen wurde: Joschka Fischer trug eben damals noch keinen Dreireiher, sondern Jeans und Turnschuhe. Viele Männer verbargen ihre Gesichter hinter Bärten und langen Haaren, viele Frauen zeigten sich im Schlabberlook. Schily, bedeutend älter als die meisten späteren Prominenten in der Partei, hielt eisern an Anzug und Krawatte fest. Das wurde nicht selten hämisch kommentiert, nicht zuletzt, als er in den 80ern zum „Krawattenmann des Jahres“ gekürt wurde. Die Grünen, die sich so tolerant gaben, konnten, was bürgerliche Erscheinungs- und Umgangsformen anging, sehr intolerant sein – welch ein Unterschied zu heute, da ein Cem Özdemir in Modemagazinen kokettiert und sogar noch politisch erfolgreich sein darf.
Schily und die Grünen – das war und ist bis heute eine Beziehung ganz besonderer Art. Oder wie es aus dem Kreis der Parteispitze heißt: „Das ist ein Kapitel, das er nicht aufgearbeitet hat.“ Verletzungen sind zurückgeblieben. Manche erinnern sich an sein „autoritäres Auftreten“ in der Grünen-Fraktion der 80er. Vor allem Frauen hätten darunter gelitten. Tränen seien geflossen, Mitarbeiter wurden zerschließen. Doch stand Schily mit diesem Habitus alleine? In jenen Jahren verschärfte sich der Streit zwischen Fundis und Realos – auf beiden Seiten wurde mit – oftmals – rauen Methoden um Macht und Einfluss gekämpft. Schily nahm in diesem unerbittlichen Stellungskrieg von Anbeginn eine Sonderstellung ein. Kaum war er 1983 neben Petra Kelly und Marieluise Beck in den Sprecherrat der Grünen-Bundestagsfraktion gewählt, warb er für das Gewaltmonopol des Staats. Das löste damals eine heftige Debatte aus – zu einem Zeitpunkt, da die Grünen gegen Atomkraftwerke und den Nato-Doppelbeschluss demonstrierten. Vielleicht reagiert Schily gereizt auf manche Grünen, weil er sich mit deren Befindlicheiten so gut auskennt. Kürzlich erst hat er die Parteichefin Claudia Roth bei „Sabine Christiansen“ abgekanzelt. Roth ist für Schily eine alte Bekannte, sie war in den 80ern Pressesprecherin der Fraktion. Der moralische Impetus, mit dem die Schwäbin in der Flüchtlingspolitik ihre Positionen vertritt, muss in Schilys Ohren wie der Nachhall längst vergangener Zeiten klingen. Wohl nur so ist die Vehemenz zu erklären, mit der er Roth öffentlich vorführt. Auch wenn die beiden, wie es heißt, ansonsten gesittet miteinander umgehen.
Schon bei den Koalitionsverhandlungen in Bonn 1998 war es laut hergegangen, als Grüne auf den Exgrünen trafen. Renate Künast, damals noch ohne Ministeramt, sorgte bei den Gesprächen über die innere Sicherheit schon mal für eine Auszeit – derart hoch schlugen die Emotionen. Das gegenseitige Misstrauen ist geblieben – und sitzt bei manchen Grünen tief. „Schily wurde beauftragt, ein Zuwanderungsgesetz zu erarbeiten“, heißt es in der Grünen-Fraktion. Doch was er jüngst vorlegte, sei in großen Teilen ein „neues Ausländerrecht“.
Nun sucht eine Arbeitsgruppe der Koalition nach einem Ausweg – das Ende ist offen. Schily, der wiederholt ein Bekenntnis zum Zuwanderungsgesetz abgelegt hat und nach der Reform des Staatsbürgerschaftsrechts damit seinen zweiten großen Erfolg einfahren würde, kommt das Unbehagen um seine Person wohl nicht ungelegen. Schon als Kind, offenbarte er in einem Interview, habe er gespürt, welche Wirkung er entfalten kann. Damals spielte er, verkleidet mit roter Perücke, in einer Laienschar den König Herodes – in der biblischen Geschichte des Kindermordes von Bethlehem. Schreiend, erzählte Schily, seien damals „mehrere Kinder aus der Vorstellung gelaufen“.
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